Gehen, nach Lissabon

Es ist sein erstes Wochenende, der erste Sonntag, seit er hier ist. Er verbringt ihn im Estrela-Park, etwas oberhalb der Stadt, sitzt auf einer Esplanade und schaut sich um. Ein alter Mann steht gut sichtbar vor dem aufgefalteten Stamm eines exotisch aussehenden Baumes und uriniert in den Stamm wie in eine Höhle. Nur der Hut des Mannes, sein Gesicht, ein Teil des im Anzug steckenden Körpers sind von dort, wo er selbst sitzt, zu sehen. Es scheint das Natürlichste von der Welt. Den Mann scheinen keine Gewissensbisse zu plagen. In aller Ruhe zieht er den Reißverschluß seiner Hose nach oben, die Beine etwas gespreizt, setzt sich den leicht verrutschten Hut wieder zurecht und geht auf den asphaltierten Wegen des Parks davon. Er wird den Mann später noch öfters sehen, im selben Park, stets trägt er seinen grauen, etwas zu weit wirkenden Anzug, Hemd und Krawatte und den altertümlichen Hut. Er kann an ihm nichts Asoziales finden, obwohl er sich sicher ist, daß nicht jeder alte Mann zum Pinkeln in einem Baum verschwindet.

In den ersten Tagen, den ersten Wochen sitzt er jeden Morgen vor Carlos‘ Bar auf dem Gehsteig an einem der kleinen grünen Tische, auf einem gleichfalls grünen Metallstuhl, und frühstückt. Am hinteren Ende der Straße prangt ein riesiges Plakat quer über die Mauer oder die ganze Hauswand. Es ist Werbung, die hier größer und maßloser ist als alles, was er aus Berlin kennt. Ein gigantisches Foto mit gelbem Hintergrund, so daß es aussieht, als scheine immer die Sonne. In dem hellen Licht des Vormittags, dem Licht der staubigen Straße, auf der immer wieder Autos vorüberfahren, Autos parken, ist es ein Anhalt. Er wüßte die Straße nicht von dem Plakat zu trennen. Die Straße macht dort hinten an der Hauswand einen leichten Knick, führt an der Hauswand vorbei, daher ist das Plakat gut sichtbar, es scheint wie eine Überschrift, eine Schlagzeile in Gestalt eines Bildes, auch wenn er sofort wieder vergißt, wofür es wirbt.

Die grauen Rolläden vor den Fenstern der Häuser sind immer geschlossen. Vielleicht erscheinen ihm die Fenster deshalb als Schlitze. Täglich sieht er einen Schreiner oder jemanden, den er dafür hält. Einen kleinen, alten Mann im blauen Kittel, der vor einer Werkstatt oder einem Laden herumläuft, den Zollstock in der Hand. Der Mann scheint alle Zeit der Welt zu besitzen. Das Holz aber sieht aus wie Abfall, es sind Spanbretter, kein richtiges Holz. Die wenigen Möbel, die er beim Vorgehen sieht, scheinen ihm wacklig und häßlich, eher ein Alibi als ein Möbelstück. Häufig sieht er einen Mann mit Holzbein, der schnell und ohne Krücken den Gehweg auf der anderen Seite der Straße entlangläuft, ewig mürrischer Blick. Böse sieht er herüber, immer hat er es eilig. Nie sieht er ihn in Carlos‘ Bar. Einmal glaubt er sich in einem Gruß eingeschlossen, der seiner Straßenseite gilt, allen vor dem Café Versammelten, und grüßt überrascht zurück. Es bringt den Mann sofort auf, der Mann schreit etwas, das er nicht versteht, Carlos schreit etwas zurück, was er gleichfalls nicht versteht. Nur dem Tonfall entnimmt er, daß das erste eine Beleidigung war, Carlos‘ Replik eine Art Verteidigung seiner Person. Er sieht einen Bauarbeiter, einen Farbigen mit offenem Hemd, leicht ergrauter, gekräuselter Bart, der am Rand der Straße Tag für Tag ein Feuer entzündet. Dazu sucht er Holz aus den entlegensten Ecken, kleine Zweige genügen ihm, um Feuer in einem Grill zu entfachen. Der Grill besteht aus einer Reifenfelge. Jeden Mittag grillt der Mann darauf sein Essen. Manchmal ißt er auf dem Gehweg vor Carlos‘ Bar eine Suppe, wie er selbst, auf einem der grünen Stühle an den kleinen Tischen. Einmal essen sie gemeinsam. Carlos nennt den Farbigen einen guten Mann, fleißig, aus Cabo Verde. Der Mann ist leicht verlegen, doch er scheint zu dieser Straße weit mehr dazuzugehören als er selbst. Auch er ist verlegen. Sie blasen in die Suppe auf ihrem Löffel. Der Mann aus Cabo Verde deutet auf die grüne Rispe auf dem Löffel, nennt das Wort, feijão. Nie hat er mit einem Afrikaner zu Mittag gegessen, war er einem Menschen aus Cabo Verde derart nah. Der Mann zieht sich nach dem Essen wieder zurück. Gegenüber, ein Stück von Carlos‘ Bar entfernt, da, wo die Straße in einer Biegung von hundertachtzig Grad in die Tiefe führt, entsteht ein neues Haus. Dort arbeitet der Mann, von dorther bringt er manchmal das Holz mit.

Abends sieht er weiter vorne, am Beginn der Straße, einen nicht mehr jungen Mann mit dichtem, langem schwarzem Bart, der vor einer Autowerkstatt umhergeht. Stets in offenem Mantel, leicht gebückt, als gehöre er zu der Werkstatt. Die Werkstatt führt tief in die Eingeweide des Hauses, eines großen Eckgebäudes, auch hier schert die Straße aus und macht Kapriolen, gabelt sich zu einer Kreuzung, führt in alle Richtungen weg, in einem Bogen. Über die Kreuzung steigt der Weg noch einmal an, zu der Straße, in der er wohnt, in beiden anderen Richtungen führt er abwärts, schroff und steil in der einen, allmählich erst und dann zunehmend steiler auf der anderen. Er sieht den Mann ausschließlich abends, daher fällt es ihm umso mehr auf, daß er auch an den noch warmen Abenden einen Mantel trägt. Immer sieht er ihn an der Werkstatt nur vorbeigehen, nie sieht er ihn aus ihr heraustreten oder in sie hineingehen, doch er gehört zum Dunstkreis der Werkstatt, dieser riesigen, weit nach hinten sich verzweigenden Räume. Stets dringt ein Geruch nach Gummi, nach Autoreifen von dort, seltsam modrig, stets dringen Geräusche heraus, als werde dort noch spät abends gearbeitet. Ein Hämmern, Schleifen, vielleicht Schweißen. Der Mann trägt eine dicke Hornbrille und sieht aus wie ein gescheiterter Student, vielleicht ist er es, ein Intellektueller, etwas auch wie ein Obdachloser. Doch er hat großen Respekt vor dem Mann, vor seinen ernsten Augen, den bedächtigen, oft auf den Boden gerichteten Blicken. Er wagt es nicht, ihn anzusprechen. Immer aber wird dieser Mann für ihn da sein, an dieser Häuserecke, wo die Straße sich weitet, der Gehweg auf beiden Seiten ganz schmal ist, man auf der Straße geht, fast ohne es zu wollen.

Jewgeni Onegin. Roman in Versen. Erstes Kapitel

LX

Da ich erwogen die Form des Plans,
Des Helden Namen, wohin er reist,
War des entstehenden Romans
Fertiggeschrieben Kapitel eins;
Ich ging dann alles durch, und siehe:
Der Widersprüche ziemlich viele,
Doch daran ändern will ich nichts.
So tue der Zensor seine Pflicht, und
Der Jounalisten hungrigem Treiben
Überlasse ich mein Werk,
Soll’n sie nun beschreiben,
Was da gestrandet ist an der Newá:
Den Berg, an dessen Gipfelkreuz ich lehne,
Die Kreuzigung, nach der nicht ich mich sehne.

Global – International – Final 3

Nun kann Amerika – der Westen überhaupt – mit den Füßen stampfen, Sanktionen und Importzölle verhängen, auf Trumpsche Art feilschen, oder neue Kriege anzetteln – die Unipolarität der letzten 30 Jahre ist vorbei, perdu, Geschichte. Bemerkenswert an den militärischen Aktionen des Westens in diesen Jahrzehnten ist, daß wohl hier und da mit überlegener Technik Blitzerfolge erzielt wurden. Doch nirgendwo in den mit Krieg überzogenen Ländern konnte sich das westliche Modell durchsetzen: Korea ist gespalten, Vietnam bis heute kommunistisch, Pinochet längst abgetreten, aus dem besiegten Irak erhob sich der IS, und Afghanistan – ohne Worte. Russland versucht seit der Finanzkrise 2008, die eigentlich die Pleite des westlichen Wirtschaftens bedeutet, die mittels massiver Finanzspritzen – man könnte auch sagen Insolvenzverschleppung – hinausgezögert, aber nicht aufgehalten wird, eine eurasische Koalition mit China und Indien zu schmieden. China bringt auf den Wegen und Kanälen der „Neuen Seidenstraße“ immer mehr Entwicklungsländer wie auch schwächelnde europäische Länder und Regionen (Ungarn, Griechenland, Duisburg) in seine Abhängigkeit.  Der Westen mag Rußland boykottieren – Rußland wird Asien mit Rohstoffen und Energie versorgen und damit noch stärker werden, während Europa ins Schlingern gerät und un­ver­meidlich vom hohen Ast fällt, auf dem es sitzt. Wenn der Westen China boykottiert, um seine liebgewonnene Unipolarität zu retten, eine Illusion, dann wird Europa nicht untergehen – aber hoffnungslos verarmen. Bestenfalls kehrt sich das jetzige Verhältnis um und die Chinesen entdecken Europa als Billiglohnland. Vielleicht geben sie einen kleinen Teil ihrer Produktionskapazitäten ab und lassen in den zu Kunstgalerien umfunktionierten Textilfabriken T-Shirts nähen für ein paar Millionen Chinesen… Ich glaube aber nicht, daß die Chinesen so dumm sein werden, den substanziellen Kern ihrer Produktionskapazitäten auszulagern.

„Schau‘ mal, Halloren-Kugeln“, Schnitt, und
__ wenn die Haifische Menschen wären,
Mit den Fingern an der Scheibe, sind es
__ immer die Augen, die durchdringen.
Durchdringen. Eindringen. Unter die Haut

Gehen. In einem Land vor unserer Zeit
__ spielte sich eine andere Kindheit
Ab – nach Hause, nach Hause … v
__ Moskwu, v Moskwu! A
My, wer waren wir anderes ..?

??????? ????????. ? ?????, ??? ? ???? – YouTube

Drei noch, alter Junge, dann wird sie
__ wieder bei sich sein, die Dreiheit.
Und nach den Toden die Enkel, und
__ nach den Enkeln die Kinder:
Nichts als Relationsbegriffe, wo wir waren

AD TREVAM

in memoriam Nawalny

von Yvette K. Centeno

Der ganze Planet explodiert

in der Woche

in der beginnt

der Weg der Finsternis

im Meer erheben sich

wütende Fluten

die Wälder versinken

und die Erde erzittert

wie es so oft schon

früher geschah

gehen verloren

die Menschen ohne Sinn

wenn sie fallen sehen

die Guten

die Gerechten

die noch wahrten

eine Hoffnung

vertröstet ein weiteres Mal

was werden die anderen tun

die, die hoffen

werden sie noch kämpfen

in der Finsternis

für das verkündete Licht?

                          18. Februar

aus dem Blog von Yvette Centeno, übersetzt von Markus Sahr: https://literaturaearte.blogspot.com/

AD TREVAM

in memoriam NAVALNY

Todo o planeta explode

na semana

em que começa

o caminho das trevas

no mar erguem-se

as marés furiosas

afundam-se as florestas

e a terra estremece

como já tantas vezes

outrora aconteceu

perdidos caminham

os homens sem sentido

ao verem como caem

os homens bons

os justos

que ainda guardavam

uma esperança

mais uma vez adiada

o que farão os outros

os que esperam

será que ainda lutam

na treva

pela luz anunciada?

 18 de fevereiro

Roman

Nun geht es um die Geschichte.

Die Geschichte der russischen Literatur ist dadurch interessant, dass es im 19. Jahrhundert um die Fragen ging, die englische, französische und dann auch deutsche Literatur im 18. Jahrhundert gestellt hatten. Deren Beantwortung war im 19. Jahrhundert in einer Richtung erfolgt, zunächst vorsichtig beginnend, in der zweiten Häfte dann in voller Brutalität des Fortschritts von Industrialisierung, die wir heute alle kennen: N o F u t u r e. Les Fleurs du Mal. Oder eben „Gott ist tot“, wenn nicht noch stärker stilisiert in der Richtung, die den Weg in den ersten großen Krieg 1914-18 im Voraus bestimmte.

Wahrscheinlich war die russische Literatur im Jahre 1920 jener Zauberberg, den es schon gar nicht mehr gab. Daran ändert auch nichts, was folgte, ob Mackie Messer oder Galileo Galilei, die Strahlungen nach den Stahlgewittern oder gar die allgegenwärtigen Rituale, vom Häuten der Zwiebel bis zum alljährlichen Verteilen der Zinsen aus den Dynamitrechten: Finnegan in seinem ewigen Erwachen, Naked Lunch fürs alltägliche Überleben.

Die russische Literatur des 20. Jahrhunderts ist dadurch interessant, dass sie zunächst konsequent bei den Fragen blieb, die das 19. Jahrhundert ihr mitgegeben hatte. Diese Fragen lassen sich auf vielfältige Weise konkretisieren, aber am interessantesten nach 400 Jahren ist wohl die nach dem Roman. Und wenn sie so gestellt wird, wie es die russische Literatur im 20. Jahrhundert tut, lassen sich Form und Inhalt nicht gegeneinander ausspielen. Halten wir fest, dass es zunächst um Geschichte geht, wo von einer Geschichte der russischen Literatur die Rede ist. Und teilen wir das 20. Jahrhundert gedanklich in zwei Teile, seine erste und seine zweite Hälfte. Und wenn wir für die erste nach dem Roman fragen, und diese Frage an einen russischen Leser stellen, werden wir vermutlich zu keiner anderen Antwort gelangen, als wenn wir sie an einen beliebigen Leser stellten: Halten wir einfach mal fest, dass es um die beiden Romane der beiden Schriftsteller Michail Bulgakow und Boris Pasternak geht, deren Titel Der Meister und Margarita und Doktor Schiwago lauten.

Halten wir auch fest, dass es in beiden Romanen neben russischer Geschichte um Geschichtsphilosophie geht.

Wer sich als deutscher Leser wirklich für Bulgakow interessiert, der lese ihn einfach. Anfangen, weiterlesen. Und irgendwann wird ihn im Traum von hinten dann auch sein Faust, Der Tragödie Erster und Zweiter Teil, ereilen. Erster Übersetzer aus dem Faust war übrigens Aleksandr Sergejewitsch, 1825, – : Puschkin. Und derjenige, der beide Teile erstmals ins Russische übertrug, war Boris Leonidowitsch (Pasternak) – in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Wer sich aber allen Ernstes für Bulgakows geschichtsphilosophisches Konzept interessiert, der halte sich an Ralf Schröder, z.B. Roman der Seele, Roman der Geschichte, Leipzig 1986. Und darin an den einmal vorläufigen Endpunkt von Reflexion: Zu einigen zeitgeschichtlichen Aspekten und zum Genre von „Der Meister und Margarita“ (September 1974). Was dann noch folgen mag, sei einer möglichen Kontroverse um die „Symbolik des Hauses“ in der russischen oder von mir aus in einer anderen Literatur gewidmet – das Reflektieren sei heilig!

Und weil es in Sachen Bulgakow bereits solch verdienstvolle Arbeit gibt, und weil Bulgakows geschichtsphilosophischer Roman in der Folge seiner Kapitel gegliedert ist, halte ich einfach nur fest, dass die Fragen der Deutung des Texts als Ganzen auf die Frage nach der Realität des Bösen und das damit zusammenhängende eschatologische, wie auch immer Thema bezogen sind. Es gibt übrigens auf Russisch einen – weißen – Band, der auch die nicht in den Text der Endfassung aufgenommenen Textbausteine enthält: „Viel Erotik“ (Oblomow-Themen).

Anders steht es um Boris Pasternaks Roman Doktor Schiwago. Dieser Text wurde dem breiten russischsprachigen Publikum erst Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts zugänglich, und einem Weltpublikum zwanzig bis dreißig Jahre vorher in Übersetzungen, deren berüchtigtste immer noch in der Bildsprache des Hollywood-Kinos die Dauerfrage nach dem Niveau der westlichen Rezeption russischer Literatur offenhält. Es ist wohl nichts so zäh wie das breit rezipierte Schlechte, wenn es die Erinnerungen besetzt hält und damit aus im Detail unterschiedlichsten Gründen die Begegnung mit dem Originalwerk verhindert.

In Form und Inhalt unterscheidet sich Doktor Schiwago diametral von Der Meister und Margarita. Und dass der Roman von einem Dichter geschrieben wurde, scheint die Sache seiner Interpretation, auf den ersten Blick, auch nicht gerade leichter zu machen. Auf den zweiten fällt auf, dass dieser Roman im Unterschied zu den meisten anderen wirklich klar gegliedert ist. Er besteht aus zwei Teilen, nicht mehr und nicht weniger.

Was ihn also von allen seinen Verfilmungen oder gar noch schlechteren Nacherzählungen unterscheidet, ist seine Form. Der erste Teil besteht aus einer Handvoll Kapitel, der zweite auch; oder besser gesagt: aus zwei Händen voll. Im Ganzen nicht mehr als als zweimal zwei Hände voll. Und dann findet der Leser noch sein Surplus – ein Epilog in Prosa, Bruchteil eines Kapitels, und eben Gedichte, Texte, deren Entstehungsgeschichte im vorangehenden Text, neben vielem anderen, erzählt worden war.

Es handelt sich um einen Roman über den Menschen, die Geschichte und eben über etwas, das manch einer Kunst oder manch eine Poesie zu nennen pflegt. In bester romantischer Tradition also, ein nicht – dieses Mal – ein nicht unvollendeter Text, Poesie und Prosa in einem. Zu erklären wäre, worin jene Textkonstellation besteht, die Doktor Schiwago zum zweiten Endpunkt jener Strecke hat werden lassen, deren erster – nach Ansicht Ralf Schröders und vieler anderer – den Titel „Der Meister…“ (& seine Frau, der Dichter seiner Muse etc.) trägt.

Nun also die Erklärung, kurz bitte. Was ist eine Figur? Präsupposition: Wahlweise entweder ein Mensch oder ein Begriff. Die dritte Möglichkeit, dass es weder das eine noch das andere sei oder, Pendant dieser Möglichkeit, gar beides, lassen wir erstmal weg; jeder kennt Figuren. Der französische Teilnehmer am Ästhetikdiskurs des letzten Viertels vom 20. Jahrhundert sprach in seinem letzten größeren Text (Was ist Philosophie? gemeinsam mit seinem Mitstreiter Félix) von Begriffspersonen. Setzen wir etwas kleiner an und bleiben lieber beim sprachlichen Fakt, dem Namen einer Person. Aber festhalten sollten wir dabei den Anspruch der Sprache des Romans, auf seiner Immanenzebene konsistent oder – stimmig wie die Kantsche Proportion von Einbildungskraft und konstitutivem Verstandesvermögen beim Treffen eines Geschmacksurteils, das seinen Namen verdient – zutreffend zu sein.

Pasternaks Roman hat mehr Namen von Personen als Kapitel. Aber er hat zwei Teile, der Form nach deutlich unterschieden. Und mindestens drei Figuren, deren Konstellation ich – eine These – als minimale bezüglich aller möglichen Interpretationen bezeichnen möchte: Schiwago, seine Frau oder Muse (das können natürlich mehrere Personen sein… – dann wäre im Zuge solcher Interpretation mal Typologie gefragt) und jene Figur, die am Ende von Teil eins betont holzschnittartig eingeführt wird – ihr Name war bereits vorher genannt worden, aber zum Teil der Handlung wird sie nur hier: erst am Ende von Teil eins des Romans, unmittelbar vor Beginn von Teil zwei, Strelnikov.

Wer oder was ist Strelnikov? Figur, Person, Begriff?

Immanent bestimmt ist es die exponierteste jener Figuren des Romans, von denen nur kurz bzw. – gemessen am Maßstab einer handelnden Person – so gut wie nichts erzählt wird.

Bis auf eine Begegnung Schiwagos mit Strelnikov wird immer nur über ihn erzählt. Und das wäre in der Tat en detail zu analysieren, nicht hier. Stattdessen nun die konkretisierte These bzgl. der Konstellation Jurij / …Lara // Strelnikov -: (2 Varianten des Einen, dessen Einheit durch die Gesamtform bestimmt ist),

  1. Schiwago/Strelnikov ist eine (Begriffs-) Person oder
  2. Jurij, Lara und Strelnikov sind drei Figuren(personen), wobei Jurij und Lara „die eine Liebe“ zu verkörpern die Kraft haben [werden].

Variante 1 läuft darauf hinaus, im Roman ein Subjekt der Geschichte zu postulieren und beide dann in ihrer Dialektik – immanent, wie sonst – zu analysieren (& zu bestimmen), Variante 2 ähnelt auf den ersten Blick bekannten Figurationen, etwa Faust/Gretchen/Mephisto, und damit könnte sich jeder hermeneutische Handwerker dann auch probeweise oder im Ernst interpretativ austoben „bis ans Ende seiner / unserer Tage“.

Wenn also Pasternaks Roman inbezug auf „Der Meister…“ etwas diametral Differentes auszudrücken bestimmt sei, dann eine Aussage gemäß Variante 1, so meine These. Womit wir, falls Sie mir darin zu folgen die Güte hätten, das Feld marxistischer Literaturtheorie zu betreten die Aufgabe auf uns zu nehmen hätten.

Ersetzen wir also Konjunktiv II durch I. Nach der Subjektivität der Substanz, Hegels Impuls, das Subjekt der Geschichte : als Denkform. Der gerechte Tausch sei als Anspruch an die Klärung der Fragen, die im 19. Jahrhundert zum Himmel schrien, eine Grundvorstellung von Richtung für die Suche nach Lösungen. Der Streit, ob dieses Subjekt nun zunächst und damit dann praktisch als Gesetzgeber oder als Handlungsinstanz inmitten aller Umbrüche, einschließlich der Ablösung einer alten Konstitution durch eine neue, zu denken sei, möge ruhen, bis zum Ende des vorliegenden Gedankengangs zumindest. Danach mag die Frage, wie solcher Streit in den vorliegenden Überlegungen implizit mitgedacht sei, wieder eröffnet werden. Halten wir fest, dass zum Handeln ein erkennendes Subjekt und zum Erkennen ein Objekt genanntes s u j e t , ein Gegenstand, notwendig vorauszusetzen sei: die Denkbestimmungen der Erkenntnistheorie.

Wie erscheint der Geschichte genannte Gegenstand in Boris Pasternaks Roman? Allein in Teil eins und seinen sieben Kapiteln als historischer Zeitraum, der etwa zwanzig Jahre umfasst und im Frühjahr 1919 mit Strelnikovs Monolog in Gedanken und den Worten ‚…Das alles gehört in ein anderes Leben! Zuerst muß ich mein neues Dasein zu Ende leben, ehe ich in jene Existenz zurückkehre, die so jäh unterbrochen wurde. Eines Tages wird es soweit sein. Aber wann, aber wann?‘ (dt. Reinhold von Walter, Frankfurt/M. 1958, S. 296) ausklingt.

Es geht hier um die Frage der Beziehung des Reflektierenden zur Familie, verallgemeinert: zur bürgerlichen Welt, die als solche in ihrer Existenz „so jäh unterbrochen wurde“. Halten wir fest, dass mit der Forderung Strelnikovs an sich selbst: „Zuerst muß ich mein neues Dasein zu Ende leben…“, mit dem Ende von Teil eins eine Zäsur vollzogen wird, die als im Text ausgedrückte Gliederung die Selbstdistanzierung des Reflektierenden ausdrücklich Form werden lässt, These: Zwischen dem Alten und dem Neuen liegt die Zäsur, der Erfolg von Strelnikovs Handeln in jener Zeit, die in der Folge aus der Konstellation des Bürgerkriegs den Erfolg einer gesellschaftlichen Umwälzung hat hervorgehen sehen. So gesehen steht Strelnikov an dieser Stelle als Handelnder im Mittelpunkt der Geschichte. Fraglich ist dabei aber, ob diese ihm nachträglich recht gibt; sein kaum als solcher ausgedrückter Wunsch „…ehe ich in jene Existenz zurückkehre“ bezeugt zumindest seine Ambition des einstigen Eintritts in die Verpflichtungen von einst. Die Vergangenheit mit ihren Wünschen, Pflichten und Bindungen sei in der Zukunft aufgehoben, so die sprechende Ambition. Aber – wird sie?

Die Gesamtanlage des Romans mag Fragen stellen, die zu beantworten Aufgabe des Lesers sei. Und bereits aus großer Distanz betrachtet scheint hier klar zu sein, dass in der Konstellation Jurij / …Lara versus Strelnikov „in Selbstdistanzierung“ eine Kontrastnahme erfolgt, deren Konstitution auf ein Sich-selbst-Werden von Geschichte zu beziehen eine Möglichkeit jeglicher Interpretation ist. Nachgefragt: Wäre das Subjekt von Geschichte als „ehemals bürgerliches Individuum, das (zumindest zunächst) auf sein bürgerliches zugunsten eines revolutionären Daseins verzichtet“ zu denken? Dabei mag sogar von dem Detail abgesehen werden, dass es sich bei Strelnikov um das Kind eines Eisenbahners handelt, dem eine Hochschulbildung zu erhalten bestimmt war, wenn mit bürgerlichem Dasein zunächst nicht mehr als ein Familienleben in Friedenszeiten gemeint sein möge.

Der Kontrast zu Jurij / …Lara macht deutlich, dass zumindest die Denkform eines Subjekts der Geschichte aus der Sicht des Erzählenden mehr zu umfassen hätte als „das verzichtende Individuum“. Und – ironischerweise?! – beherbergt nun der Text in Abschnitt 30 des siebten Kapitels des ersten Teils auch noch eine Art Figurencharakterisierung Strelnikovs, die die oben formulierte Bestimmung, es handele sich bei der Paarung Schiwago/Strelnikov um eine Begriffsperson, motiviert erscheinen lässt: Zwei Charakterzüge und zwei Leidenschaften bestimmten sein Wesen. Sein Denken war genau und von außergewöhnlicher Klarheit. Er hatte ein ausgesprochenes Gefühl für sittliche Reinheit und Gerechtigkeit; seine Empfindungen waren edel und selbstlos.[Absatz] Aber für einen Gelehrten, der neue Wege entdecken will, fehlte es ihm an jener Intuition, deren überraschende Entdeckungen die unfruchtbare Ordnung des Gewohnten und Vorausschaubaren immer von neuem durchbrechen.[Absatz] Um aber wirklich Gutes zu wirken, mangelte es seinem rigorosen Geist an jener Großmut des Herzens, die den besonderen Fall höher als den allgemeinen achtet und gerade dadurch wirklich groß ist, daß sie das Kleine, das Geringe tut. (Ebd., S. 294)

Da im Zuge solcher Figurencharakterisierung die Fraglichkeit einer möglichen Interpretation vom Text selbst ausdrücklich auf ein erkenntniskritisches Niveau katapultiert wird, lohnt es sich, den Text der Übersetzung vom skizzierten Kontext zu subtrahieren und in Konsultierung des russischen Originaltexts eine erkenntnistheoretisch tragfähige Textstruktur zu bestimmen. Konkret geht es um den zweiten der drei Absätze:

„Aber für einen tätigen Forscher, der neue Wege zu bereiten bestimmt ist, fehlte seinem Verstand die Gabe einer unwillkürlichen Spontaneität, die Kraft, mit unvorhergesehenen Details die unfruchtbare Geordnetheit leerer Antezipation zu zerstören.“

Im Klartext: Ihm fehlte (der Wille zum) esprit. [Ein für das historische Subjekt unabdingbares Konstituens.] Da ein hypothetisches Subjekt von Geschichte geradezu daraufhin angelegt sein muss, sein – das Schicksal der Menschheit – in die eigenen Hände zu nehmen, ist der mögliche Erfolg seines Handelns auf die Erreichbarkeit von dessen Zielen bezogen. Mit anderen Worten, angesichts der Unbekanntheit von Zukunft hängt die Möglichkeit eines Subjekts von Geschichte geradezu davon ab, ob und wie gut es diese in Antezipation der sich an das Handeln stellenden Herausforderungen zu bewältigen in der Lage ist. Es ist darauf angewiesen, die Probleme der Menschheit zu lösen, indem es ihr neue Wege bereitet; nötig dazu ist die Kraft des Verstandes, welche zur Problemlösung befähigt.

Strelnikov sei dazu nicht in der Lage, so der Erzähler. Aus zwei Gründen: einmal fehle ihm n e t sch a j a nn o s t‘ (unwillkürliche Spontaneität, also die Qualität eines spezifischen Handlungsimpulses), zudem aber auch die Kraft zur Zerstörung einer leeren, d.h. abstrakten und nicht wirklichkeitstauglichen Voraussicht, die Fähigkeit zur Kritik fester, einmal als Denkvoraussetzung angenommener Prognosen: mithin jene Kreativität, die es dem erkennenden Subjekt erlaubt, falsche Zielbestimmungen entlang der Erfordernisse unerwarteter, neuer Details fortlaufend zu korrigieren.

Und nun, entscheidend: Warum fehlte Strelnikovs Verstand all dieses? Die Antwort gibt der sich anschließende Absatz im Text: Es mangelt ihm „an jener Großmut des Herzens, die den besonderen Fall höher als den allgemeinen achtet…“ Oder in der Formulierung Robert Musils bei der Charakterisierung Ulrichs in seinem – unvollendeten – Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“: an Wirklichkeitsbestimmungsphant(h)asie, eben an „Möglichkeitssinn“. Strelnikov fehlte, was Ulrich zugesprochen ward.

Zusammengefasst: (kurz) Wenn es ein Subjekt der Geschichte gibt, dann ist dieses eher nach der Art Jurij Andrejewitsch Schiwagos (Arzt und Dichter) konstituiert als nach der Strelnikovs, des Bürgerkriegshelden und tragischen Opfers zugunsten eines Siegs des Kriegskommunismus.

Erkenntnis aber, so die zugrunde liegende Aussage des Erzählers, geht nicht im Allgemeinen auf, wenn das Ziel darin bestehe, „wirklich Gutes zu wirken“. Sie habe wirkende „Großmut des Herzens“ zu werden, die raison des Fuchses in Sänt-Äksepjuris „Der kleine Prinz“: Man sieht nur mit dem Herzen gut.

Als Subjekt erscheint zunächst eine Denkform, deren Objektivierung sich aber dann erzählter Weise als Herzensangelegenheit erweist.

* *

darüber schreibe ich

meine kindheit wohnt
in einem dunklen karton
zugeschnürt und in der abstellkammer
meiner erinnerungen

sicher ist nur
ich hatte eine mutter
eine katze
eine puppe und ein paar geschwister

die vergangenheit
lüge ich mir zurecht
wenn mich jemand danach fragt
und mache mir später notizen

heute schreibe ich gedichte
von liebe und solchen sachen
wirklich bescheid darüber
weiß ich nicht

Ankunft

Er besteigt das Flugzeug in Berlin Tegel mit einer Schallplatte. Ravel, Gaspard de la nuit. Er hat die Hülle zukleben müssen, damit die Platte nicht herausfällt. Er klammert sich an die Schallplatte und besteigt das Flugzeug wie zu einer Hinrichtung oder einer öffentlichen Vorführung. Es regnet auf die Rollbahn, als das Flugzeug abhebt. Er spürt den erlösenden Ruck, das Flugzeug steigt, läßt den Flughafen, läßt Berlin zurück. In Hamburg taucht es in einen Wirbel aus Wolken, weißen, dichten Luftmassen, stößt in sie hinein und später wieder aus ihnen hervor. Er hält sich an der Schallplatte fest, macht sie zu seinem Glücksbringer, überzeugt, ihm könne mit der Schallplatte in der Hand nichts geschehen. (Jedenfalls würde er es nicht bemerken.)

Am Abend desselben Tages sitzt er in der Straßenbahn, fährt die verwinkelten Gassen und Schluchten der Alfâma hinab, sieht unter sich, in der Sonne, das magische Blau und ist glücklich, so glücklich, daß er glaubt, wahnsinnig werden zu müssen. Er kauft an einem Kiosk auf der Praça do Comércio eine Telefonkarte, cartão telefónico ist sein erstes neues Wort, er wird es von nun an häufig benutzen, und ruft „zu Hause“, in Berlin an, in der Wohnung Franziskas, die nicht da ist.

Schon der Ausstieg aus dem Flughafen, das Verlassen des Gebäudes benimmt ihm den Atem. Etwas verschwommen, in einem heißen Dunst liegt der Tejo vor ihm, Taxis schieben sich voreinander, in einer Kette, schwarze Frauen in bunten Gewändern wandeln vor ihm, er kommt sich unbeschreiblich bieder und provinziell vor, es scheint Afrika, keine europäische Stadt. Er steht da, mit seinen zwei Koffern, der Schreibmaschine, seiner Schallplatte, preßt sie an sich, sucht nach einem Taxi, nennt dem Fahrer die Adresse. Rua da Penha de França. Der Fahrer scheint sie zu kennen. Er selbst hat keine Ahnung, wo es ist. Er hat keinen Stadtplan. Gluthell und heiß liegt die Stadt vor ihm, hüllt ihn ein, bald auch das Taxi, das seinen Weg vom Flughafen weg in die Stadt nimmt, auf den Straßen dahinschießt. Der Fahrer spricht von Bauarbeiten, weist auf das Wellblech, viele Baustellen, er versteht es nur halb, nickt, gottseidank verlangt der Mann keine Konversation von ihm. Sein Portugiesisch ist schlecht, fast nicht vorhanden. Er spürt, daß es zwischen den Wellblechzäunen entlanggeht, einen Berg hinaufgeht, daß es eine lange Straße ist, in der der Wagen langsamer fährt. Plötzlich stoppt das Taxi, der Fahrer bedeutet ihm mit einem Kopfnicken, daß sie angekommen sind. Er öffnet die Tür, die heiße Luft dringt herein. Rasch ist er verschwitzt, die Koffer stehen schon neben der Straße, halb auf dem Gehweg. Er hat bezahlt, ein gutes Trinkgeld gegeben, das Taxi ist weg. Er hält noch die Schreibmaschine, seine Schallplatte, da kommt schon ein Mann, nimmt die Koffer fürsorglich von der Straße, vom Gehweg weg, stellt sie vor das Haus. Der Mann will ihm helfen, den Weg freihalten, andere daran hindern, die Koffer zu nehmen. Es ist Carlos, der Barbesitzer, sein erster Freund, wenn das Wort nicht zu groß ist. Ein Verbündeter, eine Anlaufstelle in den kommenden Wochen.

Die Häuser in der Straße haben merkwürdige Konturen für ihn. Von einem Blau in der Höhe zusammengehalten, ergeben sie für ihn keine Form, sie bleiben gestaltlos, ein Band, das die Straße begrenzt. Die Fenster sind Schlitze, hinter Rolläden verborgen, die Stockwerke niedrig. Ein Band von Häusern, beidseits der schmalen Straße, die dennoch eine Durchgangsstraße zu sein scheint. Er klingelt, 2º DTO., segundo direito, 2. Stock rechts. Am Klingelschild keine Namen, nur metallene Knöpfe in einer Metalleiste.

Dann steht er mit seinem Koffer, der Schreibmaschine vor der Tür im zweiten Stock und klingelt noch einmal, hinter ihm hat sich die Aufzugstür mit einem lauten Geräusch geschlossen. Er ist über und über verschwitzt, sein Atem geht keuchend. In der Tür erscheinen zwei Frauen, eine größere, dunkelhaarige mit ausdrucksstarken Augen und einem großen, scharfkantigen Gesicht, neben ihr eine schlanke, kleinere, grauhaarig und, wie es scheint, äußerst beweglich. Die beiden reden auf ihn ein, mal auf Portugiesisch, mal in Englisch, stellen ihm Fragen. Ihm tropft der Schweiß von der Stirn, rinnt die Ausdünstung des Körpers über den Rücken. Er will auf alle ihre Fragen antworten und weiß nicht, wo beginnen. Schließlich hört er sich sagen, I am glad to be here. Die größere der beiden, Arlete, öffnet den Mund zu einem großen, breiten Lächeln, ihre Augen blitzen, Mas ele é simpático, hat sie ihr Urteil gefällt und öffnet die Tür ganz, um ihn einzulassen.

Global – International – Final 2

Die pietistischen Kreise von den westlichen Zipfeln des Abendlandes, die sich ebenfalls auf die Suche nach der Neuen Welt begeben hatten, haderten mit den imperialen Attitüden sowohl des britischen Empire als auch des spanischen, portugiesischen und französischen Kolonialismus. Die Gründerväter der Vereinigten Staaten schrieben im Grunde eine antiglobalistische oder wenn man so will antiimperialistische Zielsetzung in die amerikanische Verfassung: „God save America“ – ein Wahlspruch, der heute als hegemoniales unipolares Großmachtstreben mißverstanden wird –, behauptete  die Unabhängigkeit, sprich Souveränität gegenüber der Krone, sprich dem Empire. Es galt, der Welt ein Beispiel zu geben, daß die Loslösung vom oligarchischen Allmachtsanspruch möglich ist, nicht indem andere Länder und Kontinente unterjocht werden, sondern um ihnen einen Weg in die Unabhängigkeit zu zeigen. Nur haben die imperialen Kolonisatoren Amerika mit dem Unabhängigkeitstag nicht verlassen. Sie sind nur vorübergehend in den Hintergrund getreten, nicht einmal in den Untergrund – sie haben in akademischen Debatierklubs überlebt, sich organisiert, Unmengen Kapital angehäuft und bilden jene scheinbar unsichtbare Kaste der Mächtigen hinter den Kulissen der politischen Bühne, die als Vertreter des deep state die Strippen ziehen. Spätestens mit dem Atombombenabwurf in Japan sind sie wieder ins Rampenlicht getreten und scheuen sich nicht, ihr Streben nach globaler Alleinherrschaft als Verteidigung von Freiheit und Demokratie zu maskieren. Allein die Tatsachen sprechen eine andere Sprache: Korea- und Vietnamkrieg, die Unterstützung Pinochets, die Kubakrise, das Totrüsten der Sowjetunion, die beiden Golfkriege und schließlich die lancierten Farbrevolutionen im ehemaligen Ostblock, in der Ukraine und in Georgien, der weltweite „Krieg gegen den Terror“, die Einsätze in Afghanistan, Syrien und Libyen, Obamas Drohnenkriege – all dies wurde im Namen der Freiheit initiiert und diente allein dem Zweck, die Abhängigkeit von Amerika herzustellen oder zu festigen. Westeuropa segelte im Windschatten der neoimperialen Ambitionen.  Die europäischen Eliten glaubten, sie könnten Amerika ein Schnippchen schlagen, indem sie sich unter seinen (Raketenabwehr-) Schirm stellen, das eigene Militär abrüsten, im Stillen aber weltweite Geschäfte machen (Stichwort: „Export­welt­meister“, aber das ist passé). Amerika hat sich verkalkuliert. Und mit ihm das westliche Europa. Der Kapitalismus hat mit seinem internationalistisch-globalistischem Optimierungswahn, sprich Profitstreben, die Substanz seiner Produktivkräfte nach Asien, vor allem nach China, ausgelagert und nicht mit der dialektischen Weisheit und zugleich stoischen Konsequenz der Chinesen gerechnet. Die Produktion in der Sonderwirtschaftszone Guangdong war um Größenordnungen billiger als im Mittleren Westen, in Chicago oder im Ruhrgebiet. Die Aussicht, asiatische Wander­arbeiter für die Weltproduktion einzuspannen und unter der roten Fahne des Kommunismus auszubeuten, schien verlockend. Nur ist der Westen seit Deng Xiaoping in eine schleichende, im Ergebnis totale Abhängigkeit von China geraten. Wallmart, VW, Apple, BASF – um nur ein paar Sahnehäubchen zu nennen – erwirtschaften ihre Gewinne nicht mehr in ihren Ländern, sondern in China. Die Exportweltmeister von einst sind in Wirklichkeit Auslagerungsweltmeister, Outsourcinghelden, die im Westen Produktionswüsten und deindustralisierte Landschaften hinterlassen.

Das königliche Spiel

Miss Pistole mit Schachbuch in der
__ Hand, Schnitt, Zigarette
Die noch nicht die Zigarette danach
__ ist: ein unnützes Wort,
Nicht fähig zu mehr, als einen
__ Halbvers einzuleiten

Mehr: deine Kinder und meine –
__ die Satzglieder innerhalb
Einer sinnvollen Äußerung, die
__ noch nicht Entäußerung von
Sinn sei;

Sinn: Der Unsinn aller Rede

Gobal – International – Final 1

Den Nationalismus zu überwinden, gehörte schon zu Marx‘ und Engels‘ Zeiten zu den Herausforderungen, vor denen die Arbeiterbewegung stand. Solange die Arbeiter auf ihre Landesgrenzen, Sprachen und heimischen Gewohnheiten begrenzt waren, drohte der internationalen Bourgeoisie keine Gefahr. Denn mit der Entdeckung des Seewegs nach Indien, der „Entdeckung“ Amerikas, Australiens und Neuseelands hatte die Unternehmerklasse schon lange vor der „Internationale“ die supranationale, grenzüberschreitende, globale Ausbeutung der Ressourcen dieses Planeten für sich gebucht. Mag es zu Beginn der Renaissance die Gier umd Suche nach Gold gewesen sein, die Europäer schiffsladungsweise hinaus in die Welt trieb. Spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts war es das Petrolfieber, das die Roggenfelder & Co. aus dem lieblichen Sauerland hinauslockte ins lukrative Abenteuer. Der Kapitalismus hatte sich bereits lange, bevor die Arbeiter Klassenbewußtsein erlangten, internationalisiert und die Globalisierung eingeläutet – wir haben es mit einem Phänomen der Neuzeit zu tun, nicht erst des 20. oder 21. Jahrhunderts, wie uns manche weismachen wollen. Während sich die internationale Arbeiterbewegung schon bei ihrer ersten Feuerprobe – dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 – von ihren biedermeierlichen Monarchen in einen nationalistischen Taumel hineinziehen ließ und sich in Stellungskriegen gegenseitig abschlachtete – erhielten die Produzenten, die Rohstoff-, Energie- und ja sogar die Waffenproduzenten, ihre globale Vernetzung am Laufen und lieferten an jeden, der bestellte, unabhängig von Nationalität oder Religionszugehörigkeit.

Hotel Magonza

Schlaf gut. Träum süß von sauren Gurken! Über mir die Gesichter von Tante Anni, von Mutter und Großmutter. Neben dem Bett die feuchte Schnauze von Snoppy. Noch einmal die Stimme. Von sauren Gurken! Tante Anni. Dann geht das Licht aus, die Tür geht zu. Nun soll das Kind schlafen. Der Vater hat Nachtschicht bei der Feuerwehr.

Hier bin ich. Eingemietet im zweiten Stock eines Hauses, das dem Haus meiner Kindheit so nahe ist wie nur möglich. Ein geräumiges Hotelzimmer mit Balkon, Doppelbett, Kleiderschrank und riesigem Bildschirm. Der Rollkoffer steht noch auf dem Boden, unausgepackt. Das Zimmer blickt auf die Straße, auch der Balkon.

Auf den Balkon bin ich schon einige Male gegangen, doch es ist Sommer und heiß. Jetzt, am Nachmittag, auf einem der beiden Stühle zu sitzen, wäre eine Qual, und so nutze ich den Balkon nur, um ein paar Fotos zu machen. Von der Straße vor dem Hotel, der bescheidenen Schlucht, die sich in beiden Richtungen auftut, von den Häusern, die sich mir eingeprägt haben müssen als Kind und die ich nicht wiedererkenne. Einmal sah eine junge Frau zu mir auf, aus dem ersten Stock gegenüber, als ich eben auf den Auslöser drückte. Offenbar hielt sie mich für einen Voyeur. Empört sah sie von einem großen Schreibtisch am Fenster zu mir herüber, ich hatte sie in dem Augenblick erst bemerkt. Die Kamera war nebenan auf das Eckhaus gerichtet, auf den nicht mehr vorhandenen Laden, in dem ich oft das verbotene Bier für Tante Käthchen geholt habe. Bomben hatten das Haus im Krieg getroffen, nur Parterre und erster Stock waren stehengeblieben. Bis vor wenigen Jahren hatte es von dem Eckhaus nichts als das Parterre und die erste Etage gegeben. Der Eingang zum „Leineweber“ aber war wie der Laden selbst schon lange verschwunden. Nun sah ich eine neue, weiße Fassade über dem Erdgeschoß aufragen, vier Stockwerke hoch, auch das Dach schien ausgebaut. Noch immer schaute die Frau hinter dem Schreibtisch böse zu mir her. Ich tat, als bemerkte ich sie nicht, fotografierte noch einmal in die andere Richtung, die Straße entlang, wie um sie zu beruhigen. Nun aber zog sie den Vorhang zu und verdeckte ein seltsam langes, niedriges Fenster. Ich ging ins Zimmer zurück, es war ohnehin zu heiß.

(Auszug aus einem neuen Roman)

Bruxelles, Musée Fin-de-Siècle.

L‘homme en Rouge war ihr Lieblingsbild. Helles Rot, geparkt auf einem schlanken männlichen Leib, der seine Bewegungen zu koordinieren wusste, den dünnen Schnurrbart zwirbelte. Glitzernde Edelsteine perlten an seinen Fingern, die Stimme hatte den warmen Schokolade-Klang von Cellosaiten. Dass so ein Mann die Frauen liebte, war ein Geschenk, das Esther sich bei der nächsten Gelegenheit abholen wollte. Sagte sie sich. Grüne Salatrüschen wanden sich über ockerfarbenen Käsescheiben und geeister Schaumwein wurde herum gereicht.

Wie im Traum, aus der Zukunft kommend, denkt sie:

Ich will bei ihm bleiben.
Ich bin neugierig.
Das Gefühl ist anziehend.
Nichts stellt sich ihm in den Weg.
Ich lächle das süßeste, kirschrote Lächeln,
stoße mit dem Glas gegen seinen Anzug,
an seine Brust, genau dort,
wo sich das Herz befindet.

„du bist nicht aus dem Barock, du passt nicht zu Rubens, deine Taille ist geschnürt, aber das will ich nicht sehen.“

Ein Bleicher mit grüner Haarsträhne am Hinterkopf gesellt sich zu Esther, und da er merkt, wie sehr sie sich für den Herren im roten Anzug interessiert, spricht er sie ungeniert an. „Die Dame des Salons hat sich mit ihrem Mann gestritten, er redet nicht mit ihr,  und sie isst nun seit drei Tagen nur noch Brot mit dünner Margarine.“

„Eine Verschwendung, bei so einem hübschen Menschen.“

Wo, zum Teufel, blieb in der Gegenwart das Mystische? Es verbarg sich in Spaziergängen, in ihnen lag die Lösung. Wer jedoch in karger Erde grub, würde niemals fündig werden.

„Wissen Sie, wer der Mann dort am Büffet bei den Pralinen ist? Es ist Henry van de Velde. Einer der größten Designer unserer Zeit. Er hat die neue Kunst geprägt.“ „Oh“, macht Esther, senkt die Hand. Blass hält sie den Kelch mit dem kirschroten Bier. „Van de Velde. Mein Gott.“

Erinnerung an Tavira

Nichts gleicht den Stränden im Winter, dem Licht am Wasser, auf hellem Sand. Die kleine Stadt hinter dem Meer, mit ihren weißen Mauern. Dem Platz hinter der Brücke. Cafés und dunkle Arkaden, unter denen das Wort pulsiert. Geschriebenes Wort aus der Zeitung, den Medien, kehlig diskutiert.

In den Menschen ist Zeit, sie hat sich angesammelt in ihnen, wie nutzlos stehen sie herum. Sind einfach da. Geben den Mauern, den Straßen Halt.

Prinzessinnen rennen durch die Straße, Jungen mit Konfetti und knallenden Revolvern, auf der anderen Flußseite. Am Ortsrand. Vom Himmel die Flut aus Licht. S. zeigt mir die weißgekalkten Kirchen, die Ruine eines Kastells. Der Blick über die weiße Stadt, in der Ferne die Linie Meer. Gezogen wie mit dem Lineal. S. ist schon im nächsten Ort, am nächsten Strand. Wir sitzen auf Stühlen vor der Lagune, ein Boot rührt das Wasser auf. Hell leuchtet das Kiosk, wie die Zähne der Frau an der Bar, die den Kaffee bringt.

Es ist möglich, im Auto zu schlafen, hoch über der Stadt. Lila und rote Blüten wachsen über den Duschen, das Wasser läuft kalt.

Der Strand dehnt sich wie Wüste, hell, er scheint endlos. Da ist der Balken aus Wasser, das Blau einer Waage, ins Lot gebracht. Hotelburgen erheben sich fern, am Horizont, weiß auch sie. Abendlich nur das Leuchten.

S. bleibt am Strand, ich fahre zurück in den Ort. Sehe die alten Dächer auf der anderen Flußseite wieder, den Karren, vom Esel gezogen. Die Menschen sind mißtrauisch, die alten Frauen. Die Kinder werden vor mir entfernt, als nähere sich der Leibhaftige. Hinter Greisin und Kind schließt sich die Tür, fällt geräuschvoll ins Schloß.

Der Tag wird aus Licht geboren, aus einem Brunnen aus Zeit. Er steigt herauf, lange, bis die Sonne, unsichtbar, im Zenit steht.

Was ist Poesie

Poesie ist,
wenn ich spüre, was alles durch dich
hindurchschwingt - während du mich
ansiehst und vom Himmel sprichst
und versicherst, hoch hinauf
und tief hinunter bedeute das selbe
und dazwischen
wir stattfinden

Im Netzwerk all dessen was in uns
und hinter uns liegt - verwoben in die
Textur der Zeit, der kommenden und
der vergangenen - und sich bündelt
wenn du sagst - ich sehe dich - 
meine Hand in deiner

Je. Onegin: Kapitel eins, achte Strophe

Und was Jewgeni sonst noch wusste
Zu sagen, hat gar keinen Sinn;
Was sicherer er als alles Wissen wusste,
Was sein Elyseum war, so wie ich Tabor bin,
Was Mühe, Schweiß und sogar Freude war –
Wie Fetzchen Glück inmitten eines Schwermutsanfalles so klar –
Wenn er im leeren Zimmer saß den ganzen Tag
Und grübelte: Ach pfui! Ob sie mich wirklich mag?
Das war die Wissenschaft der sanften Leidenschaft,
Welche Ovid besungen, die ihn alles kostete,
Was je ein Mensch verschenkt‘, der niemals rostete,
Weil’s Leben ein Martyrium war, das Glück erschafft
Inmitten endlos weiter Steppe – in Moldawien,
Fernab der heißgeliebten Heimat, von Italien.

Reden : immerhin

für M. C. und M. S.

Die Melancholie : nachdem die Gäste

Gegangen sind : die Kinder

Haben sich abgetrocknet

Und harren auf ihren Sitzen

Im Auto der Abfahrt : auf dem Tisch

Die Reste : der Abwasch

Stille

Ich bleibe mit der Katze allein

Im Garten und den ungezählten

Anderen Tierchen : die sich

In den Ritzen angesiedelt haben

Ich bin allein mit meinen alten

Chinesen und genieße

Die Stille

Und weine : Vater und Sohn

Bilden keine Bastion : nur Träume

Wir können reden : immerhin

Von den Vertreibungen

Vom gestundeten Paradies

Von der Hülle : der Fülle

Und von der Stille

Featuring : Heinz-Joachim Heydorn : Gedichtzyklus aus dem Nachlaß

Yang-Kuei-Fei

Flötenspiel
und verhallender
Trommelschlag

Lärmende Feste
ersterben in der Nacht –

Du aber hast sie verlassen –
Tschangans nächtliche Gassen
und der Paläste
lichtüberflutete
Drachensäle

Und die Stille
der Gärten
umfängt Dich

Noch hörst Du die Stimme
das heisere Rufen
des trunkenen Kaisers –
Taumel und Schrei

(Wie ihn Dein lüsterndes
Lächeln verwundet)

Rabenkrächzen
zerreißt
die Nacht

Zu Deinen Füßen
verflammende
Blüten

Bald
wird es
Winter sein –

Hinter träumenden Lidern
siehst Du den Tod –
den Erwartenden

Und Deine schmalen Augenbrauen
zittern

*

Featuring : Poesie oder Prosa

Wenn wir als Vögel in himmlischen Lüften
wiedergeboren, entschweben den Grüften,
entfliehen dem engenden Erdenringe,
soll jedem von uns nur eine Schwinge –
ein Fittich nur beschieden sein,
auf daß wir ewig fliegen zu zwein.

Wenn wir aus dem Grabe zum Lichte steigen
als Pflanzen, so wollen wir mit Ästen und Zweigen
einander umflechten, umarmen, umringen,
untrennbar für immer, für ewig umschlingen.

(„Lied von unsterblicher Liebe und Sehnsucht“, dt. Ernst Schwarz)

*

Weiter ging es auf unserem Wanderweg zum Edelsteinfluß von Noda [FN 168] und zum berühmten „Stein im Meer“ [FN 169]. Auf dem kleinen Berg, der Sue no Matsuyama hieß, hatte man einen Tempel gebaut, der Mashshozan [FN 170] benannt wurde. Ringsum zwischen den Kiefernstämmen sahen wir überall Gräber und es durchfuhr mich unwillkürlich der Gedanke an all die Liebesschwüre und was von ihnen geblieben ist: an den „Doppelvogel mit gemeinsamen Schwingen“ oder an die „Zwei Bäume mit ihrem ineinandergewachsenen Stamm“ [FN 171]. Es nimmt eben alles ein Ende – und ich empfand hierüber Trauer, in die ich mich hineinverlor.

(„Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“, dt. G.S. Dombrady)

Herren mit Niveau

„Sie sind nicht berechenbar, aber immer noch viel zu gut, um gekündigt zu werden. Das wissen Sie, und deshalb starten Sie von vorn und erwarten Sie das nächste freundliche Angebot.“

Eine rhythmisch behaarte Männerhand legte drei Münzen auf das Tablett und jemand ihr gegenüber am Tisch verneigte sich altmodisch. Im Funkeln der Lüster fühlte sie sich genarrt. So ein Taschentrickspieler. Dicke Brillengläser und schwarzer Rollkragenpullover und so ein musternder, versierter Blick. Ein Alter mit einem jungen Gesicht, gegenüber ein Blonder, die beiden sahen aus wie die Schachbrettkekse, die man zur Adventszeit überall kaufen konnte. Herren beim Abendessen, sicher eine Homoannonce, dachte sie bissig. Herren mit Niveau.

Nichts wie Morgen

Starre mich selbst nieder
Während das ewig selbe 
Haus vis-á-vis im
Kaisergelb den Himmel
Ausbeutelt.
Das Vertrauen erschüttert
Im Traum Räume betreten wo
Möbel in zimmermittiger Berghülle wie vorm Ausmalen
Mir Kahlheit und Fragen ins Erwachen legten.
Beim Kaffee dann mit Oma geredet
Bist wieder jung sag ich. Bei allen Lieben
Es gibt keinen Krieg.
Der Radio rauscht
Treibt den Faradayschen Käfig durchs Unwetter
Die Sonne kommt raus. Die Nase läuft
Die Zigarette schmeckt
Das Bahnsignal diffundiert durch
Samstag-Mittag-Sirene.

Samt und Cotton

Sie haben sich den Schal heruntergerissen, dann geraucht. Aber weshalb die Grauen? Wissen Sie denn nicht, dass die voller Teer sind? Gerade die Grauen, und Sie, Sie mit ihren gezierten Worten über gesunde Ernährung und rauchfreie Zonen, greifen zu diesem Ascheton. Die Braunen sind aber noch schwerer und voller Stickoxyde. Da mögen Sie Recht haben. Das sind eben die Braunen. Bei Braun, da denke ich an Kaffee, Kakao, Einspänner, braune Stutzer und braune Schäker, auf jeden Fall: an Zügelloses. Aber die Grauen.

Alles gritzegrau im Leben, meinen Sie wohl, warum sollte es im Rauchen anders sein? Und nun schlucken Sie schön einen Löffel braunen, cremigen Hustensaft. Den mit dem Opium. Der macht Sie entspannt. Entspannt sind Sie? Wie Sie so daliegen, glaube ich Ihnen das fast. Heißt Ihre Zigarette etwa nach der Freundin, die Ihnen den Mantel, den Sie da tragen und der Sie nicht wärmt – den Schal haben Sie sich heruntergerissen. Und Sie ziehen sich Sachen an, in Samt und Cotton, Stiefel, die Ihnen nicht gehören, nur um ein anderes Lebensgefühl zu kosten? Geben Sie mir Ihre Hand, Madame. Immer das Rauchen. Ich rate Ihnen zu den Zigaretten, die Ihre Freundin raucht, die Freundin, in deren Mantel Sie sich räkeln, die Ihnen die Sachen geliehen hat, die Sie da anhaben. Sie raucht Chateau. Die mit dem Himmelsschlösschen. Mit denen sie Figürlein pusten kann. Die Blauen. Chateau raucht man gern mal gegen zwei Uhr nachts, die sind so leicht, dass Ihre Lunge aufatmet.

Glitter oder sempre en vogue

Du erfuhrst es Tausendschönchen

Hände über letternbeschriebenem

Blatt in deinem ockern anthrazitfarbenen

Antlitz spiegelt sich die Welt der Seidenen

samtene Tellerchen spielst du, hölzern

auf Decke aus Lein aus Gesticktem

auf dem Staubweg der gesäumten Geraden

pulsierend sempre en vogue

Liefst du dann auf Bogenhaaren

auf Saiten. Barfuß die Rillen

unter den Fingerkuppen

auf dem auseinandergezogenen

Fächer der abblätternde Lack.

Abschied

Als du fortgegangen warst,

stürzten die Meere in die Tiefe.

Ich fühlte die Leere, die

auch Briefe nicht schreiben.

Ich liebte dich wie die

Musik, als du mich umgabst.

Ich lieb dich wie gestern,

als du neben mir lagst,

als du zu mir kamst,

deine Hände mich umgaben,

mich ohnmächtig an dich

schmiegten, benommen

von soviel Glück, soviel

Nähe, dass ich wie eine

Krähe, meinen rauen Schrei

ausstieß, um dich zu halten.