Arktika

Er hat neue Reifen gekauft, neue Winterreifen, vier Winterreifen Ultra Super Grip, mitten im Juli, ein Supersonderangebot, die alten Winterreifen, die sind ja jetzt abgefahren, dachte er, total abgefahren, also für den Winter waren sie schon völlig ungeeignet, das Profil hatte überhaupt keine Tiefe mehr, aber für den Sommer, da gingen sie noch, im Sommer hat er die alten Winterreifen noch dran gelassen, ist mit den alten Winterreifen zum Netto gefahren und zur Werkstatt und zu seinem Arzt und und er ist zum Bahnhof gefahren, um die Kinder abzuholen, aber wozu gibt es das überhaupt noch, dacht er, Winterreifen, es gibt doch sowieso keine Winter mehr, jetzt hat doch gerade das erste Frachtschiff die Abkürzung über den Nordpol genommen, wenn man da einfach so am Nordpol vorbei schippern kann, ohne Atomeisbrecher, da bracht man ja auch keine Winterreifen mehr, es gibt ja keine Winter mehr, nie wieder kommt ein Winter, das ist ein für alle mal vorbei, da ist er aber schön reingefallen, dachte er, keiner kauft noch Winterreifen und er lässt sich diese Winterreifen aufschwatzen, da wird er mit Winterreifen im Januar zu Aldi und im Januar zum Arzt und im Januar zum Geldautomaten fahren und es wird kein Schnee liegen und es wird kein Eis sein und es wird nicht regnen und es wird einfach nur die Sonne scheinen, da braucht er nur den Sonnenschutz herunterklappen, weil die Sonne so tief steht und sonst nichts, ja, das waren noch Zeiten, als wir noch Atomeisbrecher brauchten, um zum Nordpol zu gelangen, als die „Arktika“ auf ihrem Weg meterdickes Eis brechen musste, meterdickes, und das war gar nicht so lange her, 1977 war das, das Jahr, in dem er geboren wurde, und da gibt es ja noch diese alten Schwarzweißfotos mit seinem Kinderwagen, und er liegt da im Kinderwagen, und die Oma schiebt den Kinderwagen, und um den Kinderwagen herum liegt der Schnee, meterhoch liegt der Schnee, nur ein schmaler Pfad ist da freigeräumt für den Kinderwagen, ein schmaler Pfad, mehr nicht, und da fragt er sich, obwohl ihm diese Frage ziemlich dumm verkommt, ob der Kinderwagen wohl Winterreifen hatte, ob er damals im Winter mit Winterreifen fuhr und im Sommer mit Sommerreifen, und als diese Fotos aufgenommen wurden, als der ORWO-Film gerade in der Kamera lag, da teilte die „Arktika“ gerade das Eis am Nordpol, zog eine Spur im Eis wie ein Kinderwagen im Schnee, und heute ist die „Arktika“ ja still gelegt, längst still gelegt, das meterdicke Eis hat den meterdicken Stahl abgerieben, jeder Zentimeter Eis, den ein Schiff bricht, ist ein Zentimeter seiner Zukunft, für jeden Zentimeter Eis kann es später einen Zentimeter weniger fahren, einen Winter früher ankommen heißt für ein Schiff einen Winter früher untergehen, und so genau war die „Arktika“ ja nicht, so exakt hat sie das Eis ja nicht gebrochen, die hat ja nicht nur das Eis gebrochen, die hat auch das Meer gebrochen, und den Nordpol, den hat sie ja vielleicht auch gebrochen, den Nordpol und den magnetischen Nordpol, die hat sie beide gebrochen, na, jedenfalls hat er jetzt diese vier günstigen Winterreifen, diese vier neuen supergünstigen Winterreifen Ultra Super Grip, die kann er ja noch abfahren, das hält noch ein paar Winter.

Eleadora Stein
geb. am 12. 6. 1954 in Wilkau-Haßlau, ist eine vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Übersetzerin und eine der bekanntesten zeitgenössischen deutschsprachigen Autorinnen. Nach ihrer umfassenden Kritik an Sprach- und Bewusstseinsschubladen befasste sich Stein vor allem mit dem fortschreitenden Verschwinden des Subjekts. Frühwerke wie „Pilzbeschimpfung“ und „Versuch über den Mut“ machten sie in den späten 1970er Jahren schlagartig bekannt. Bei der Wiedervereinigung der 1990er Jahre vertrat sie vereinigungskritische Positionen gegenüber der Mehrheitsmeinung.

2 Kommentare

  1. Folgender Eindruck: Ein ultranüchterner Betrachter der Realität gerät beim Gedanken an seine Vergänglichkeit an eine kreisrunde Öffnung und glaubt es sei ein Reifen. Luxusprobleme. Keine Wetteränderung, auch in den Siebzigern dachten wir Global – an die Klimakatastrophe im Jahr 2000. Der Jugend tut alles weh, vor allem sich selbst, sobald das Wehleid mal nicht geht, ist sie hilflos.

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