Re: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Flucht und Wiederkehr XXIX)

Archie tänzelt, hält das Spielzeuggewehr erst vor die Brust, dann über die Schulter, als schieße er eine Bazooka ab, schließlich hält er es sich vor das Geschlecht, „Phew, phew, phew“, seine Stimme klingt hoch, es wirkt absurd.
Um ihn herum lacht die Menge, wirft Münzen. Archie, dessen Sonnenbrille schief über seinem fehldenden Auge sitzt, simuliert noch einen Kopfschuss und tritt einer imaginären Leiche gegen den Kopf, steht dann urplötzlich stramm und grüßt, Hand an der Stirn.

Archie trägt auch heute wieder eine saubere Flecktarnuniform, er wohnt mit seiner Mutter, erzählt er nach der Straßenvorstellung, sein Vater sei vor seinen Augen getötet worden, als er neun Jahre alt war.
Auf die Frage hin, ob er davon träume etwas anderes zu machen, beginnt er zu weinen.

Sein Dilemma: das Trauma ist zugleich Einkommen. Über den rauchenden Trümmern seiner Kindheit spukt die ewige Wiederkehr. Archie Toulee, einst Soldat im Dienste verrohter Männer, die rituelle Kleinkindtötungen zur Stärkung der Kampfmoral der Sippen vollzogen und das Fleisch ihrer Feinde aßen, um Macht zu demonstrieren, die auf den Straßen Monrovias hungrigen, zehnjährigen Klebstoffschnüfflern Kalashnikovs an die Hände banden, dieser Archie Toulee tanzt alle Tage den Special Forces-Tanz.

Der Filmemacher entschuldigt sich bei ihm. Die Sequenz endet, indem wiederholt erst Archies Tanzschritte und anschließend Archivbilder von Kämpfen und Hinrichtungsszenen gezeigt werden. Identisch das Tänzeln, Treten, Zielen, die Salven, die Bazooka, das Schiessen von unten. Kinder, die den Schwerpunkt des Gewehres verlagern mussten, weil sie so jung waren. Kein Lachen, nur Sprachlosigkeit ob der Sinnlosigkeit, der fehlenden Gerechtigkeit eines kalten Universums.

Korn das keimt, aber der weitere Regen bleibt aus, eine Gazelle, die Sekunden zu spät geboren wird und noch nicht zu rennen vermag, das ausgesetzte Kind, dessen Mutter vor Hunger keine Milch mehr geben konnte. Und Archie, Mahnmal einer Generation, die im Sog der Katastrophe wie ein kalter Wind um die aufreizend unsichtbaren Kleider des moralischen Menschen stob.

Denjenigen, die erwidern, es gäbe ja auch Gutes, es gäbe inmitten des Scheiterns auch trotzendes Glück, übersehen, dass kein getränkter Halm, kein trabendes Kitz, kein sabbernder Wonneproppen und kein glücklicher Archiebald jemals darüber hinwegtäuschen könnten, dass die einzige Ebene, auf der gerechter Friede zu herrschen vermag der Gedanke eben daran ist – geprägt in einer Welt des Leids, deren Gesetze Ambitionen dessen abbilden, was sie gebar. Der freie Wille ist tot, lang lebe der freie Wille.

 

Rio Reiser – Menschenfresser Menschen

Archie Toulee (in: Larry Charles Dangerous World Of Comedy E1+2)
Archie Toulee

Faron Bebt
schreibt Geschichten mit bunten Botschaften und einem hartem Kern. Immer etwas dogmatisch, aus der Zeit gefallen, verstörend verträumt - wie letzte, angemalte Großstadtbunker --Farbbeton.

5 Kommentare

  1. Fette Brille auf der Nase, Stacheln unterm Hintern für das Gleichgewichtsorgan, dickes Gummi unterm Handgelenk, Spezialmaus, Implantate im Mund … mache Leute brauchen eben für alles eine xtra-Wurst. Soll man deshalb über sie Schreiben? Ich meine: Nichts muss alles kann.

  2. Woran gemahnt der Bildschirm, auf dem der Text über Archie zu lesen ist? An eine bessere Welt? An das Grauen, alltäglich und doch abstrakt, uns? Die Beschreibung der Welt ist eine Beschreibung, in der die Bilder Gefühle auslösen. So ist das Medium. Sollte das wirklich heißen – so, sind: wir. Sollen, auslösen sollen. Leise! Leise, er spricht. Uns?

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