Vyvyan und Eduard

Ein Stück für rapunzel. Und für Oscar Wildes zweiten Sohn.

Sie ging zum Dozieren in engen Frauenhosen und lüftete sich hier in den weiten Kleidern der Jahrhundertwende aus. Er sagte, er wolle morgen beizeiten beginnen, in der Dämmerung, er brauche das Grau. Oder das rötliche Licht. Im November musste das am Nachmittag sein. Er trat auf sie zu. Er berührte den Gegenstand, den er zeichnete, und der nur für sich selbst war. Eduard hätte das für den Tod der Kunst erklärt. Sie fühlte die Farbe im Gesicht. Inmitten einer Wochenendnacht, die laut war und nicht zum Halten kam, lief sie später eineinhalb Stunden lang nach Hause, nur um nachmittags wieder hier zu sein. Zuerst durch ein Jugendstilbild hindurch. Dann durch die Stadt, erleuchtet wie eine Pappkulisse im barocken Theater. Im Raureif, vorbei an lärmenden Nachtgestalten, Suppenhallen, Barbetrieben mit grünlichen Cocktails und einer Zitrone darin, und vielleicht einer Marzipankirsche darauf. Und dann fielen ihr wieder und wieder die ersten Worte des Romans ein, Sanft starb das Jahr, und noch sechs Wochen bis zum Millennium.

Am nächsten Tag war Esthers Haut an vielen Stellen geschwollen. Die Adern traten hervor. Eduard hatte sie nach dem Kaffee umarmt und gesagt, lass’ es sterben, das Jahr. Dabei sah sie hinter seine Brillengläser. Esther dachte schon an eine Ménage à trois. Eduard aber dachte sicher an die Krankenwagen, die er im alten Jahr noch für Vyvyan würde rufen müssen.

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