Nur Traum

Ein neues Zeitalter hat begonnen. Niemand hat es gedacht, doch nun ist es da. Wie konnte es geschehen? Zuerst wurde das Rauchen verboten. Unter dem Vorwand der Gesundheitsprävention. Die Leute nahmen es hin und saßen fortan ohne ihren Glimmstengel in den Kneipen, glaubten, das wäre alles. Die Regierung fühlte sich ermutigt. Als nächstes war das Trinken dran. Nein, die Zustände wie während der Prohibition kehrten nicht wieder. Es gab es keinen Widerstand, keinen Untergrund. Die Leute waren so gesättigt und schwach, beschäftigt mit ihren Eigentumswohnungen und Kleinwagen, daß niemand auf die Idee kam, Schwarzbrennereien zu gründen. Um den Stoff für noch mehr Geld zu brennen. Es wäre eine phantastische Umverteilungsaktion geworden. Neue proletarische Kreise wären zur Elite aufgestiegen, erst in der Mafia, dann in der Regierung. All das blieb aus.

Stattdessen beschlossen die Oberen, schamlos mutig, das Fallenlassen von Papier auf die Straße unter Strafe zu stellen. Was wäre ein Gesetz ohne Strafen anderes als ein hornloses Nashorn? Binnen eines Jahres folgte die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die Leute jubelten. Die Todesstrafe wollten sie schon immer zurück haben. Endlich wieder Köpfe rollen sehen. Die Todesstrafe gepaart mit dem universellen menschlichen Bedürfnis nach Sauberkeit und Ordnung auf der Straße entsprach vollkommen dem Volkswillen. Von wegen, Demokratie und Faschismus seien Gegensätze. Faschismus ist der vollendete Ausdruck der Demokratie, unverstellt, schrankenlos.

Ich erkenne an den gebohnerten, im staubigen Sonnenlicht glänzenden, menschenleeren Straßen, daß das neue Zeitalter ausgebrochen ist. Die Züge füllen sich mit Gesetzesbrechern; ich meine die Güterzüge. Der Bahnhofsvorsteher, der mir seit langem als freundlicher Kollege vertraut ist, lächelt. Jetzt hat er endlich alle Hände voll zu tun. Ich lächle zurück, denke, ich könnte, indem ich ihm helfe, das System unterminieren. Ich sehe die furchtsamen Gesichter in den Öffnungen und Ritzen der Waggons. Die lächelnde Visage des Bahnhofwarts. Die gespenstisch glänzenden leeren Straßen. Zur Demokratie gehört der Dreck, er zeugt vom Leben. Der Tod hat keine Zeugen. Nur den Bahnhofswart, der die Weichen so stellt, daß die Waggons direkt in den Schlund des Verbrennungsofens hineinrollen. Und mich, der mitmacht, um zu protestieren, zu sabotieren. Aber daraus wird nichts.

Einmal, wenn der Bahnhofsvorsteher eingeschlafen ist, stelle ich die Weiche um und manöviere den Zug auf ein Abstellgleis, hoffe, daß die uns zahlenmäßig haushoch überlegene Meute der zum Tode verurteilten Straßenbeschmutzer aufbegehren, uns überwältigen würde. Stattdessen blickt sie furchtsam, in Schreckstarre, durch die Ritzen im Holz und nichts geschieht. Sie fragt demütig, wann die Fahrt weitergehen würde. Ehe ich mich versehe, hat ein EU-Kommissar den Mißstand erkannt, ist hinzugeeilt, hat den Waggon in den Orkus gelotzt und mich von meiner wunderbaren Arbeitsstelle gefeuert. Beinahe wäre ich selbst vorm Tribunal gelandet und verurteilt worden.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

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