Leipzig nießt

Die Messe ist gelesen, ich schlage die Montagszeitung auf und sehe: Nießen. Jetzt muß ich den Namen doch erwähnen. Der Überschrift wegen. Ein fülliger Barde mit rotblondem Haar, rotblondem Bart, schwarzer Brille. Der im Neuen Rathaus die Arme hochreißt wie ein gedopter Radrennfahrer auf der Zielgeraden. Kämpferisch, sportlich, wie der Liebhaber des Pferderennsports, der zwei Tage vorher die Faust hochreckte nach der Siegesmeldung und sich mit Bier besprühte. Wild entschlossen, wie der ehemalige Panzerfahrer, der einst in Klagenfurt seine Faust präsentierte. Nießen hebt beide Arme in die Luft, was auch heißen kann: Ich kapituliere. Aber so ist es nicht gemeint, wirklich nicht. Das Leipziger Lesespektakel – in der Selbstwahrnehmung der Stadt immer ein Superlativ: das größte Literaturfest Europas mit knapp 2000 Veranstaltungen – platzt aus allen Nähten. Das Sympathische an der Zahl ist, daß sich hinter ihr etliche unbekannte Autoren verbergen. Was heißt unbekannt? Außer den Debütanten, die eine Chance verdienen, bleibt in Deutschland eine Großzahl preisgekrönter Dichter anderer Zungen unbekannt – und unbedeutend. Der Filz der Feuilletonredaktionen filtert effektiv und läßt sie nicht an die Oberfläche des öffentlichen Bewußtseins steigen. Da genügt es nicht, den Pulitzer Prize for Poetry zu gewinnen oder den NIN Award of Literature. Manchmal denke ich, da wäre ein neues 68 vonnöten oder eine 89er „Wende“ – im Westen. Statt über diese beiden Ereignisse immer wieder nur nostalgisch zu debattieren. Leider hat sich die Zahl der Besucher Leipzigs zur Buchmesse nicht in gleichem Maße vervielfältigt wie die Zahl der Veranstaltungen. Und die in den Hochglanzmagazinen hochgelobte Verflachung des „Formats“ Lesung zur „Leseshow“, zum „Event“, multimedial natürlich und massenkompatibel, zieht die Gäste in die Katakomben der Innenstadt. Ernsthafte literarische Programme – im Panometer mit Kurt Steinmann beispielsweise, der zwei Jahre lang jeden Tag 15 Verse der Odyssee neu übersetzte – verwaisen außerhalb des Innenstadtrings. Wen interessieren sie schon? Es wird gefeiert, man feiert sich selbst. Die Auferstehung des Partymenschen, bitte nicht zu früh am Morgen. Mit Literatur hat das nichts zu tun. Und was, bitteschön, ist eigentlich „Literaturvermittlung“? Wenig erfährt der Zeitungsleser am Montag nach der Messe von Alida Bremer, die in unglaublicher Detail- und Kontaktarbeit, kroatische Autoren nach Leipzig vermittelt sowie – noch wichtiger – die Übersetzung und Veröffentlichung ihrer Werke arrangiert hat. Auch ihre Nächte, scheint es, waren länger als der Tag. Die Augenringe nicht weniger dunkel. Was, also, bleibt von der Buchmesse in Leipzig 2008? Der Kater mit Gewißheit nicht, der ist am Montagabend schon verflogen – sondern ein paar neue Bücher, unter anderem aus dem Kroatischen.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

Ein Kommentar

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert