Etwas Erbauliches

In der Nacht vor Weihnachten schrieb sie einen Roman. Weil der Schnee nicht hatte kommen wollen. Das Thermometer war auf drei Grad Celsius stehen geblieben, es roch nicht nach Fichtennadeln, es roch nach Benzin und schmutzigem Regen. Schmutziger Regen hat einen eigenen Klang. Man weiß, dass volle Mülltonnen vor der Haustür stehen und vor den Feiertagen nicht mehr abgeholt werden. Man weiß von dem aufgeweichten Papier, den lappigen Kondomen, stinkenden Milchtüten, die auf dem Hof herumliegen und festgewaschen werden. Man muss etwas trinken an diesem Abend. Der Wecker ist auf sieben Uhr gestellt, sie wird den Klingelbefehl löschen, bevor er scheppernd beginnt. Sie wird weiterschlafen und den Zug verpassen. Die Eltern werden sich aufregen. Kann das Kind nicht mal zu Weihnachten pünktlich sein. Sie wird in ihrem Zimmer sitzen bleiben, Teelichter in den Kerzenhalter legen, sie anzünden und dabei zusehen, wie sie in Form einer Wendeltreppe in den Raum brennen. Sie wird die Fenster weit öffnen und den Regen hineinlassen, die Rinnen mit der schlammigen Brühe betrachten und die vorbeirauschenden Autos, die Benzingestank in den Regen entlassen. Und Kerzen. Wenn die ersten heruntergebrannt sind, wird sie neue einlegen. Sie hat Vorrat, hundert Stück gekauft. Sie wird den Stecker aus dem Telefon ziehen. 

Er hatte sich etwas Erbauliches von ihr gewünscht. „Schreib doch mal was erbauliches“, hatte er beim ihrem letzten Besuch im September gesagt. Kerzenlichter waren nicht geeignet, sich daran zu erbauen. Sie brachte nichts ein. Sie war ein Verlustgeschäft. Aber sie wollte Kerzen. Was war erbaulich? Eine geglückte Liebesbeziehung? Eine tödliche Familiengeschichte über Obstgärten und Kinderchen? In Obstgärten war man allein und beklommen. Ab und zu plumpste eine überreife Frucht ins Gras. Es köderte einen das Schweigen. Sie wollte in Obstgärten sitzen und mit den ins Gras gefallenen Mirabellen ihr Alleinsein feiern. Die waren klein, wurmstichig und wurden von Mutter nicht gemocht, denn sie blieben an ihren frischgeputzten Schuhsohlen kleben. „Mit diesem Obst ist nichts anzufangen, nicht mal einkochen kann man es. Der Mirabellenbaum muss weg.“ Sie erinnerte sich an den süßen, etwas faden Geschmack und das Weiche, Runde in ihrem Mund, das sich mit der Zunge leicht zerdrücken ließ. Die Mirabellen waren weich und nachgiebig wie das Kerzenwachs.

Hausbesitzer sind um die Weihnachtszeit herum die einzigen verbliebenen Menschen. Sie machen sich an deinem Briefkasten zu schaffen, freuen sich über die frischen weißen Schildchen, sind beglückt wie Schulkinder. Der Zug aus einer Havannazigarre macht sie erwartungsvoll für Mußestunden, heute kehren sie auch die lappigen Kondome mit Blattwerk vom Hof. Dass schwermütige Musik aus den Boxen tönt, überhören sie. Vielleicht ist es auch die Kerzenstimmung, in ihrem Haus mit seltsamen Rundungen an den seltsamsten Stellen. Baugerüste ruhen stumm, wollen seit Monaten ihre Beute nicht freigeben. Balkontüren werden aufgestoßen. Sie sind so alt, dass ihr Knarren vertraulich klingt. Regenschauer wehen herein. Ältere Herren mit grauen Bärten und PDS-Mützen treiben vorbei, schlingern auf Fahrrädern durch das schlechte Wetter. Du kratzt Tapetenreste von der Wand, überlegst zum wievielten Male, ob du die vergilbte und von Tesastreifen entstellte Wand über deinem Bett streichen sollst. Starrst den Stuck an, der in jedem Zimmer anders aussieht. Ziehst mit den Augen Kurven und Rundungen, Kreisbewegungen um eine leere Mitte nach und entdeckst in den Bewegungen die Walzerseligkeit, die nie statt fand. Manchmal, wenn es hier sehr dunkel ist, leuchtet ein grünes Schild mit Zeichen Notausgang. Doch du findest die Tür nicht. Trittst in Abstellkammer Nr. Zwei, Staub rieselt in deine Nase, ein Strick baumelt aus drei Metern herab und du weißt, dass da oben ein Stuhl in luftiger Höhe hängt. Der richtige Ort für eine persona non grata. Doch du kommst nicht dorthin.

crysantheme
Wer eine Crysantheme verblühen lässt oder ihr den Kopf vor ihrer Zeit abschneidet, der erntet zur Strafe nur noch grünes Friedhofskraut.

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