„Wir waren ganz normale Nazis.“

„Ich erzähle dir nur, was du wissen willst. Nur was du mich fragst.“ Er fährt auf der Autobahn. Gut, wie immer. Sicher wie immer. Einfach perfekt, der Prototyp eines gelungen Genpools, denn er ist 80 plus, und bringt das. Sein Vater wäre jetzt sicher nicht mehr enttäuscht von ihm. Hin und wieder schwächelt er, also wenn die Tochter, ein verwöhntes Balg und schon in den Wechseljahren, ihn als Möbelpacker engagiert. Aber sonst, sonst bringt er es. Er ist in Ordnung. Und war einmal Nazi-Boy. Später trug er Schmalztolle, eine schwarze Pracht, von der heute noch ein bisschen übrig ist. Aber davor, davor war er – wie war das doch gleich mit Günter Grass? Ja, da war doch was. Wer sich jetzt erinnert, weiß, wo er war. Doch er ist in Ordnung, schwer in Ordnung. Und er wurde zu einem wirklich schönen Mann. Cool sah das aus, so mit der Zigarette schief im Mund und der schwarzen Tolle. Doch wie sagte man das damals? Sieben Fahrstunden hat er gebraucht und er hatte seinen …schein. Und Treckerfahren konnte er, autarke Wirtschaft. Auf einem Passbild lächelt er schüchtern. Das hat Mutter in ihrer Handtasche. Schüchterne Männer sind oft so süß. Später würde er ein vorbildlicher Vater sein. Und dafür kann er ja nichts. Die Tochter weiß, dass ihr die Eindrücke fehlen. Sie wird bodenlose Recherchen durchführen müssen, bevor sie das Buch schreiben kann, dessen Titel ihr auf dieser Autofahrt in den Sinn kommt: „Wir waren ganz normale Nazis“.

5 Kommentare

  1. Schwer in Ordnung war auch Opa. Bis ich Sonntagnachmittag von der Kaffeetafel aufstand und heimlich sein Zimmer durchsuchte: Gerichtsbücher von Nürnberg, Bilder aus Afrika, etliche Schreibmaschinen und Hornbrillen, ein Kaufmann – ein staatlicher Mann in fescher Uniform, und in der Schublade ovale Ringe aus schwerem Metall mit solch Dornen obendrauf. Meine Kinderhand passte mühelos hinein in die Öffnung. Ich ging handberingt ins Wohnzimmer und schlug rhythmisch auf die Tischplatte aus schwerem Eichenholz. Oma erstarrte, der stark gehbehinderte und durch den Krieg hörgeschädigte Opa sprang aus seinem tief gesessenen Sessel auf, entfaltete seine 190 cm Körpergröße und drohte mir mit dem Gehstock. Seine blauen Augen leuchteten und blitzten in Harmonie mit dem weißen Haar, dass trotz der Jahre immer noch nichts von seiner früheren schlohblonden Fülle verloren hatte. Ein schöner Mann! Ein böser Mann. Mein Opa.

  2. „…bevor sie das Buch schreiben kann…“:
    hätte, hätte – Fahrradkette
    könnte, könnte – Fiesematente
    möchte, möchte – Papas Töchtle
    würde, würde – schwere Bürde

  3. Liebes Rapunzel, da muss ich wohl passen. Mit Ihrer Geschichte kann ich es nicht aufnehmen. Denn solche greifbaren Beweisstücke sind in meinem Leben leider schwarze Löcher. Nicht einmal die Bombentrichter auf unserem Acker bekam ich zu sehen. Sie sollten den Roman schreiben, den Titel aber lasse ich mir mit einem Copyright versiegeln. Alles Gute – und natürlich den Zugang zu den richtigen Archiven. Und: unterscheidet es sich nicht grundsätzlich von einer „Klara“?

  4. kein bombentrichter, auch kein dornenring. nein. ABER: eine geige. zartes wundersames erbe. gut gelagertes trockenes holz. mondgeschlagen. was für ein klang: es-es. wie soll man das verdauen.

  5. eine kleinigkeit gäbe es noch hinzuzufügen – und hierüber freuen sich sicher besonders die vintage-enthusiasten (vgl. hildegards erbe, inskriptionen sept. 2011): papa liebt alte möbelhäuser und second hand. vom leipziger zeughaus, wo er lange zeit im klassenraum motorräder – 1940-1970 verweilte, antikes buchwerk inspizierte, buchrücken begutachtete (seine profession) und staub herunterblies, dabei seine brieftasche vergaß, damit mutters leidlich therapierte hysterie provozierte – aber auch ihren unerschütterlichen aktionismus anstachelte, und am ende im dunklen kelleraufgang beinahe auf eine tote maus trat – vom leipziger zeughaus schwärmt er bei jedem unserer treffen: „da will ich nochmal hin.“

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