Wo bist du? (***[2]**)

Ich hatte dich seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Die Frage, ob das vektorielle Zucken der Sonne am Himmel Ausdruck einer kosmischen Körperstruktur ist oder aber so erruptiv vonstatten geht wie die Geburt eines Weltuntergangs, hatte mich nicht wieder losgelassen. In der Erinnerung an deine Stimme kamen meine Gedanken immer neu auf die sonderbare Gestalt jenes Zitterns zurück, aus welchem der Satz über die längst vollzogene Zukunft der Menschheit, Apotheose der Selbstbegegnung von Arm und Reich im abgedunkelten Raum eines Baukastens über sich hinaus verweisender Dinge, an jenem Abend erstanden war. Plötzlich war die Sonne untergegangen, deine Fingerspitzen hatten sich zurückgezogen in ein schwarzes Licht, das seitdem den Beginn einer jeden Nacht mit einer Schwerkraft umhüllte, die der unsichtbaren Sonne ebenbürtig war. Seitdem standen deine Augen jeden Abend am Horizont und schauten mich mit einem Zittern an, in welches hinein der Akkord aus dem Innern benachbarter Weinflaschen gefallen war, abstrahierte Form eines Universums, das noch von keinem Auge eines Körpers je angeschaut worden ist. Auge eines Körpers, ja, so war es – das erruptive Zittern deiner Stimme hatte meinem Ohr ein Gesicht offenbart. Die Augen hatten an dir vorbei die Bewegungslosigkeit deines Körpers wahrgenommen, selbst das kleinste Zucken wäre als kurzzeitige Verdunkelung der Sonne dem fragenden Blick zu Bewusstsein gekommen – allein: das fragende Zittern blieb.

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

Ein Kommentar

  1. Fruehstueck fuer IMMER ! – Mit suessen Verfuehrungen in den Schlaf gefallen, Erwachen im Laerm von Granateinschlaegen. Das Blei in den Fuessen daempft meine Schreie. Und die Zeit heilt ALLE Wunden.

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