Fragmente/ Das Reh am Abgrund

I will have spent my life trying to understand the function of remembering, which is not the opposite of forgetting, but rather ist lining.

We do not remember. We rewrite memory, much as history is rewritten.

 Chris Marker, Sans Soleil

FRAGMENTE

Unter einem Wunderbaum, Platane genannt, sitze ich in der letzten goldenen Herbstsonne. Sanft zieht unter mir der Fluss vorbei und verliert sich in diesig-zärtlichem Blau hinter den Hügeln im Süden.

Die Blätter der Platane sind eine Bibliothek, die sich auf sandigem Boden verstreut.

Rindenhände mit Sandfurchen graben nach Erinnerungen.

Mensch – Tier – Abgrund – Sehnsucht…

 

Das Reh springt hoch, das Reh springt weit, warum auch nicht, es hat ja Zeit

So steht es auf einer Raufasertapete im Zimmer eines Studenten geschrieben.

Es gibt ein Graffiti dazu und ein Foto von diesem Graffiti.

DAS REH AM ABGRUND

Ein junger erwachsener Bauernsohn melkt die elterlichen Kühe unter Einwirkung von LSD.

Die Kühe haben rosarote Euter, sie brüllen eine Melodie; Pink Floyd kracht aus dem Kalk der Stallwände. Am Boden zwischen der Kuhscheiße Sprünge, Risse, Ritzen.

Im Melkhirn sirrt ein wundersam verzerrtes Gemisch aus Wort und Ton. Blutwürste hinter der Stirn, die Stirn spannt sich, im Kehlkopfbereich setzen sich Bewegungen in Gang, welcome to the machine, ratterratter, strull, klopfklopf.

Scheinwerfer, Kegelleuchten, Irrlichter im nächtlichen Stall.

Wieder hinlegen, Wecker stellen, Kühe melken. Wie klingt ein Wecker auf Trip?

Der junge erwachsene Bauernsohn studiert Physik. Ich studiere die Verwandtschaft von Kuh und Reh in seinem Lächeln, das ich sympathisch finde, und: hinter dem ich Weisheit vermute.

Raschelnd entferne ich mich vom gelben Blattwerk meiner Chronistin (der Platane) und gleite zwischen grauglänzenden Steinrücken in eine tiefe, dunkle Schlucht. Feuchtigkeit überzieht alle Oberflächen. Flusswasserbesprüht, taubenetzt und regenbespritzt liegen meine Gedanken dort ungestört. Modrig duften sie zwischen Moosen, Pilzen, Flechten. Geheimnisvoll erglänzen sie dann und wann, wenn ein Lichtstrahl sie berührt. Spinnenweben schützen sie vor dem Zugriff der Blattfinger meiner Erinnerungsverwahrung.

Wolfsschlucht. Wir kriechen zusammen. Verlieren uns im Dunkel.

Plätschern vor uns, hinter uns, weiter weg; das wilde, dunkle Wasser rauscht vor und zurück. Minifische flitzen vorbei. Pilzgeflüster, Insektengewisper.

Die durchdringende Stimme der Bauernmutter. Das Schrillen des Weckers. Ein Wald auf einer Tapete in einem Jugendzimmer; das Bild des Waldes ist manipuliert. Gleißende Sonnenstrahlen treffen Blätter und Stämme. Buchen sollst du suchen (bei Gewitter), tritt ein in den Wald, den unmanipulierten Wolfs- und Rehwald: Vorhang auf für diese Horror-Show. LSD öffnet Türen. Eine Stimme aus Alices Wunderland ruft echoverhallt: Leben bist Du, nicht nur Traum.

LSD war nie mein Ding, sage ich zu wem auch immer, Herrn Pilz, Frau Spinne, Madame Wunderweltenbaum.

Ich sehe das Reh am Abgrund stehen, ganz ohne Einwirkung fremder Chemie, es springt hoch, es springt weit…

… der Abgrund soll Sehnsucht sein.

evawal
geb. 1966 in Hamburg, Ausstellungen, Lesungen und Konzerte, Klang- und Rauminstallationen, Video, Film, Performances. Lyrik, Prosa und andere Abenteuer. www.evawal.blogspot.com

2 Kommentare

  1. sehr schöne fragmente. eine idee von mir: sie vielleicht einzeln einstellen, dann wirken sie noch dichter und können ihre wirkung voll entfalten.

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