Die makabre Figur der Freiheit

Krzysztof Siwczyks Gedichtband „Im Reich der Mitte“ ist in der Edition Erata auf Deutsch erschienen

Wir kombinieren Phrasen, heißt es nüchtern im letzten Satz des Buches. Verwirrt steht der Leser vor dem Berg an Botschaften, den er bei der Lektüre angesammelt hat. Eine so aberwitzige wie konsequente Geste, mit der sich Krzysztof Siwczyk der Autorität des Welterklärenmüssens entzieht und das durchsetzt, was seine Gedichte beschwören: selber denken soll der Mensch, seine Behörden entkräften und in sich schlummernde Tendenzen zur blinden Gefolgschaft überprüfen.

Siwczyk beobachtet, aber er richtet nicht. Seine Menschen arbeiten ausdauernd an ihrer Selbstüberhöhung, um der Bedrohung durch Sturz in die Belanglosigkeit zu entkommen. Trotzdem ziehen sie die Existenz der Seitenbühne vor: Das Leben spielt sich nicht in der Vordergrund.

Siwczyk kennt das Geheimnis der ersten Sätze, die eine Sogwirkung ausüben und sich ohne Anlauf dem Leser aufdrängen: Eine Notiz über Inspiriertheit fand sich nicht.

Obwohl mit einem hohen Grad an Abstraktion ausgestattet, sind seine Texte zugänglich. Denn sie sind nicht nur intellektuelle Gebilde, sondern eine seltsame Körperhaftigkeit ist ihnen eigen. Diese gelingt durch eine eindrucksvolle rhythmische Form, die der Lyriker für die meisten Gedichte gewählt hat. Dabei kehren Wörter und Zeilen der einen Strophe in der nächsten wieder. Es entsteht Lyrik, die laut gelesen werden will, die musikalisch ist. Und die scheinbar strenge äußere Form wird zum Moment der Entfesselung von Sprachenergien. So geschieht im Medium selbst das, wofür Siwczyk auf Ebene des Textes plädiert: ein Ende des Kontrollwahns und der Apathie. Lasst das Fest beginnen, Ihr werdet frei sein in der Energie von Nichtigkeiten.

Siwczyk, Jahrgang 1977, lebt im oberschlesischen Gliwice, studiert Kulturwissenschaften und betreut am „Instytut Mikolowski“ mehrere Editionsprojekte. Für den Band „Dzikie Dzieci / Wilde Kinder“ (1995) wurde er mehrfach ausgezeichnet.

André Rudolph, selbst aufgewachsen zwischen zwei Sprachen, ist eine leichtfüßige Übersetzung der schweren Kost gelungen. Und trotzdem wird spürbar: Übersetzen stellt einen riskanten Akt dar, ist ein Hinüber-Schwimmen, bei dem er gilt, den Kern des Eigentlichen zu bewahren und ihm sorgfältig einen neuen Mantel in der neuen Sprache zu suchen. Wichtig war Rudolph die Lesbarkeit der Gedichte nach dem Prozeß der Übersetzung, die ein permanentes Abwägen zwischen Zugeständnissen an die Eigenwilligkeiten beider Sprachen und dem Wunsch, möglichst nah am Original zu bleiben, notwendig macht.

Sywczyk/Rudolph ist ein beeindruckendes polnisch-deutsches Projekt fern aller Attitüden gelungen. „Im Reich der Mitte“ erscheint bei Edition ERATA in einer deutsch-polnischen Ausgabe.

(Quelle: „Kunststoff“ 2 / 2007)

Alfred Knurr
geb. am 24. 12. 1967 in Görlitz als Alfred Knerr, ist ein deutschsprachiger Kritiker, Possenreißer und Bän-kelsänger, die Eltern waren dem Wein zugeneigt, was ihn nicht hinderte in Halle (Saale) zum deutschen Biedermeier zu promovieren, zuletzt: Das Drama von Gier und Geiz, Frankfort am Mein, 2014

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