Alice

Mein Fahrrad klappert über das Kopfsteinpflaster. Es ist ein relativ freundlicher Februarmorgen, an dem die Sonne von Ferne das Grau durchscheint. Ich fahre die Heerstraße entlang in Richtung Kölnstraße. Hier parken die Autos immer besonders blöd; immer in zweiter Reihe, so dass man ständig anhalten und auf dem Stück Einbahnstraße entgegenkommenden Autos ausweichen muss.

Eine dunkelblaue Vespa kommt auf mich zu geknattert. Eigentlich müsste ich ausweichen, doch die Vespa nimmt Kurs auf meine Straßenseite. Kurz bevor ich den Fahrer anfluche, der nun schon fast frontal auf mich zukommt und mit der ausgestreckten linken Hand auf und ab winkt, sehe ich unterhalb seines ebenfalls dunkelblauen Helms auf der dunkelblauen Jacke die Aufschrift: POLIZEI.

„Guten Morgen“, grüßt der Polizist freundlich, und während ich noch überlege, ob dieser Vespafahrer wirklich ein Polizist ist, sein kann, klärt er mich auf, dass hier gegen die Einbahnstraße auch das Radfahren nicht erlaubt sei.

Als mir ein: „Hä, seit wann denn das?“ entfährt, lächelt er mich freundlich an, sagt: „schon immer“, und bevor ich noch eine dumme Bemerkung machen kann, kneift er ein Auge zusammen, zwinkert mir zu und wünscht mir eine „gute Fahrt“.

Verdutzt wende ich mein Fahrrad und biege, wie automatisch dem freundlichen Polizisten gehorchend, in die nächste Seitenstraße ein. Also radle ich dieses Mal eben durch die Georgstraße und gelange über die Adolfstraße in die Kölnstraße. Fahre rechts an den Straßenbahnschienen entlang, am Ümit-Market vorbei, schräg gegenüber liegt der Aldi und wieder rechts: die Kölnstraße 127.

Und nun sehe ich zum ersten Mal in all den Jahren, die ich in dieser Stadt wohne, dass sich dort die Haustür öffnet. Eine Frau kommt aus dem Haus. Auf hohen Schuhen geht sie die Treppen hinunter, durchquert den steinernen Vorgarten, öffnet das schmiedeeiserne, mit goldenen Blüten verzierte Tor und tritt auf die Straße hinaus. Ich muss aufpassen, nicht vor Staunen und Starren mit den Fahrradreifen in die Straßenbahnschienen zu schliddern oder auf den Randstein zu schrabben.

Die Frau dreht sich zur Haustür um und winkt. Ich gaffe sie an und versuche erfolglos, auch noch zu erkennen, wem sie zuwinkt.

Sie ist mittleren Alters, trägt das sehr blonde Haar kurz und glatt und ist stark geschminkt. Ihr schmaler, roter Mund leuchtet. Ihre Nase ist spitz und endet in einem kleinen Schlenker aufwärts. Sie trägt vornehme, doch altmodische Kleidung. Heller Rock, dunkle Jacke, Handtasche.

Sie ist nicht wirklich Alice, doch ich muss in ihr Alice sehen – wen denn sonst! Irgendein Zauber macht aus ihr Alice; oder ist sie die Zauberin? Wer ist sie unter dieser dicken Schicht Make Up?

Ich könnte mich kneifen. Fahre weiter, nehme aber nicht den nicht den kürzesten Weg nach Hause durch die Graurheindorfer Straße, sondern, weiß der Teufel warum, den Umweg über die Drususstraße.

Und dort sehe ich aus einem etwas auffällig parkenden, silbergrauen BMW einen Mann mit silbergrauem Haar steigen. Zuerst halte ich ihn für eine Erscheinung. Doch es ist keine Einbildung: dort steht der leibhaftige Dr. Grau und blickt suchend an einer Häuserfassade hinauf.

Nun frage ich mich doch, wer der Vespa fahrende Polizist ist, der mich – mit einem Augenzwinkern – auf diese Tour geschickt hat.

evawal
geb. 1966 in Hamburg, Ausstellungen, Lesungen und Konzerte, Klang- und Rauminstallationen, Video, Film, Performances. Lyrik, Prosa und andere Abenteuer. www.evawal.blogspot.com

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