Wesen und Schicksal der Dichtung in den „neuen Ländern“

für Alfred Margul-Sperber

In diesem Beitrag komme ich nicht auf die Dichtung – die Texte und ihre Verfasser – zu sprechen, sondern wende mich den Umständen, den Kontextbedingungen zu, die die dichterische Produktion in den neuen Ländern bestimmen. Diese Dichtung leidet – hier sei an ein Wort von Martin Buber erinnert – an ihrer Tragik, die zugleich ihre Größe ist: Warum nennen wir uns Dichter? Nennen wir uns Dichter, weil wir dichten, oder werden wir Dichter genannt, um uns als „undicht“ aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen?

Wir sind Dichter in einer Zeit, in der die einen aller vorübergehenden Finanzkrise zum Trotz überlegen, ob sie noch flugs das dritte Auto fürs großgewordene Kind anschaffen. Die anderen drehen und wenden jeden Heller, neuerdings auch hier Cent genannt, bevor sie ihn zur Tafel tragen. Beide betrachten Gedichte mit geringschätzigem Achselzucken: Lieber Freund, wer liest heutzutage noch Gedichte? Und: Mein Lieber, wer kauft heutzutage noch einen Gedichtband?

Wir sind Dichter, weil wir aus der Mode und aus der Zeit gekommen sind. Wir sind Dichter aus den sogenannten neuen Ländern und das heißt, daß die sogenannten alten Länder nicht allzuviel von uns wissen wollen. Ja, wir haben, wenn man sie als Dichter bezeichnen will, einen Schulze und wir haben einen Tellkamp, manchmal in der Erinnerung einen Hilbig – kaum erringen diese Namen im Westen einen Herbst lang Aufmerksamkeit, schon murmelt Frau Radisch in Hamburg: diese ewigen Ostdeutschen, haben wir kein anderes Thema? Man kann nicht sagen, daß der Westen seine Dichter verhungern ließe. Wer einmal im Stipendien-, Stadtschreiber- und Preiskarussell Platz genommen hat, dreht sich und schwingt von einem Ort zum andern, daß ihm übel werden kann.

Nun hat der Handel die „Wende“ als verwertbaren Topos entdeckt, sie hat den Krieg als Generationenthema abgelöst. Dennoch kann Herr Lüdke aus Apolda vermeintlich glaubhaft behaupten, die Ostdeutschen wären zur Lektüre von Dostojewski gezwungen worden und daher würden sie heutzutage überhaupt nicht mehr lesen. Daß einst die Zensurbehörde mit dem Statement „Es solle keine Dostojewski-Renaissance forciert werden“ (Barck et al., S. 99) das Interesse an Dostojewski weckte, gehört zu den dialektischen Bumerangwürfen, die in der Marktgesellschaft außerhalb des Fokus liegen. Nun soll der Zensur hier nicht das Wort geredet werden. Der Markt schafft sich seine eigenen Filtermechanismen, denn kein Mensch kann all die überflüssigen Neuerscheinungen auf den halbjährlichen Buchmessen konsumieren.

Die ostdeutschen Dichter schreiben deutsch, doch man hat den Eindruck, als wirkten sie – aus rhein-mainischer Perspektive – randständig: als Vertreter einer fremden kleinen Sprache, die man unter Artenschutz stellen sollte, denen aber kein Beitrag zur deutschsprachigen Literatur zuzutrauen sei. Die westdeutsche Literaturszene verschluckt sich an ihrer eigenen Größe. Seit 1941 ist der deutschsprachige Kulturraum sprunghaft geschrumpft. Galizien und die Bukowina, einst junge und tonangebende Zentren der jüdisch-deutschsprachigen Kultur, sind beinahe vergessen. Nach 1989 verkleinerte der Exodus der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben den deutschsprachigen Kosmopolitismus. Dieter Schlesak hat Italien dem deutschen Exil vorgezogen. Es ist übersichtlich geworden. Die DDR-Literatur mit ihren Heyms, Hermlins, Brauns und Wolfs wurde als Fußnote in den Annalen vermerkt. Der bundesdeutsche Feuilletonblick kann wie gewohnt über seine Provinzen schweifen. Die Städte, in denen er Literatur wahrnimmt, lassen sich an anderthalb Händen abzählen. Wieso über den Grenzzaun schauen, der ist doch abgerissen – und wir haben selber seit fünfzig Jahren eine Überproduktionskrise.

Die eigentliche, vielleicht wesentlichste Tragik der Literaturszene in den sogenannten Neuen Ländern besteht darin, daß es für sie in der eigenen Region kaum ein Echo und kaum ein lesendes Publikum gibt, weder nennenswerte Verlage noch unabhängige Tageszeitungen, die sich vom vermeintlichen Marktdruck nicht davon abhalten lassen, das geschriebene literarische Wort als Medium der Demokratie zu verteidigen. Lieber wird der neue alte Grass oder Walser rezensiert – das verspricht Hoffnung auf potente Anzeigenkunden -, als ein Gedicht von Ulrich Zieger, Thomas Kunst oder eine Geschichte von Utz Rachowski abzudrucken. Ohne daß der Moderator widersprach oder das heimische Publikum grummelte, konnte Herr Greiner in Leipzig die Hosen herunterlassen: Auf die Frage, wonach er Bücher zur Rezension in der ZEIT auswähle, behauptete er unverfroren, wenn ein Titel von Suhrkamp oder ein Titel des Lehmstedt Verlages auf seinem Tisch lande, dann sei doch klar, daß er ersterem den Vorzug gebe, Suhrkamp sei eben ein Name. Zu Suhrkamp verbinden ihn gewachsene Beziehungen, das sei Vertrautheit des Kritikers mit seinen Lieferanten, auf die Vorauswahl dieser Lektoren könne er sich eben verlassen – welch eine Offenbarung, derart deutlich hatte ich es gar nicht erwartet. Nicht der Text und seine Qualität entscheiden, sondern der Name des Verlages. Lieber keiner als Greiner! Nennen wir es Faulheit, nennen wir es Urteilsunsicherheit, nennen wir es strategische Ignoranz. Im Gefolge einer hohen Auflage herzuschwimmen suggeriert nach Marktlogik garantierte Aufmerksamkeit, und das ist die Währung, nach der hier gehandelt wird. Der Rückschluß lautet: Wenn alle nach dieser Logik verfahren und es allen an Entdeckermut mangelt, sticht keiner heraus und wir haben den sattsam verbreiteten, feuilletonistischen Einheitsbrei. Liebe Kritiker, dient doch dem Markt, begeistert eure Chefs und grabt literarische Schätze aus, die noch nicht allerorten beschrien wurden …

Quelle:

Simone Barck, Martina Langermann & Siegfried Lokatis, Jedes Buch ein Abenteuer, Akademie Verlag, 1998

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

5 Kommentare

  1. Nennen wir uns Dichter, weil wir dichten, oder werden wir Dichter genannt, um uns als “undicht” aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen?

    Weder nennen wir uns Dichter, denn was wir beim Schreiben tun, ist – gemessen am Ergebnis – nicht der Rede wert, es sei denn als Teil des Sujets, welches die Anstrengung im Prozess der permanenten Wiedererinnerung an seine Anfänge und die damit immer neu zu verknüpfende Frage nach der Richtung der Suche, die ein probierendes Tasten im Zwischenreich der Worte, Sätze und sinnlichen Eindrücke realisiert, an denen noch immer jede menschliche Unordnung hängt, und das damit mögliche Ende der begonnenen Geschichte betrifft, noch werden wir Dichter genannt, um uns damit in der Sprache das Gegenteil dessen zu bescheinigen, was wir sind: Wir sind nur Schreibende, einfach und immer weiter Schreibende, und weil diese Einfachheit eine höchst komplizierte Angelegenheit ist, scheint es doch zutiefst verwunderlich zu sein, wenn der Wunsch nach Aufmerksamkeit die Gestalt eines beleidigten Narzissmus annimmt, der sich über die vielen Risse im Spiegel beklagt.

    Die Schreibenden haben nichts zu verlieren als ihre Worte. Aber die in Sätzen oder anderen Gefängnissen zusammengedrängten Worte haben viel viel mehr zu verlieren als ihre Autoren – sie vermissen seit langem etwas, das sowohl mit der als Klarheit des Denkens auf nur unklare Weise bezeichneten Eigenschaft des Aufeinanderfolgens von Reden und Aufatmen zu tun hat als auch mit jener Angewohnheit im Rahmen menschlicher Verständigung, die mal als Großmut, mal als prophetische Gabe, aber doch immer irgendwie außerhalb ihrer selbst in Erscheinung tritt.

    VORFRISTIGE VERHANDLUNG IN FRAGEN EINER ERBSTREITIGKEIT

    Frage des Richters: Was bezweckten Sie mit Ihren Worten?
    Antwort: Die Sprache. Die Wahrheit. Verstehen Sie?
    Urteil: Gehen Sie! Sie sind frei. Ich verurteile Sie zu weiteren zehn Jahren.

Kommentare sind geschlossen.