Hitze und Kälte [3, 1, 1]

Es war die Zeit am Ende des Jahres. In der Küche stand ein Geruch, dessen Plätzchenfährte das Gedächtnis unfehlbar in jene Richtung geleitete, wo die Geheimnisse der Kindheit in einem Schrank verwahrt liegen, aus dem es in wechselnden Schüben duftet und duftet, mal nach Zimt oder Rosmarin, mal nach Safran und Lavendel. Es war wohlig warm in dieser Küche, und wenn man das Fenster öffnete, um etwas frische Luft in den vom Backofen überheizten Raum zu lassen, dann kam es vor, dass man zugleich die Hitze, vom werdenden Kuchen über die Nase direkt bis in den Bauch getragen, spürte, in dem es kribbelte und wippelte, und unterhalb des Kopfes jene Kälte, die von draußen hereinwehte und die die Vorstellung zu allerlei Mutmaßungen darüber anregte, wie es wohl den Tieren gehen mochte, die den ganzen Winter über im Walde wohnten und dort doch bitterlich frieren mussten. Dann geschah es auch, dass ein kleines – ob in Gedanken oder körperlich klar, wer vermag das schon zu sagen angesichts des Zweifels, des universellen Lehrmeisters dieser Welt – fliegendes Vögelchen den Rand des aufmerksam lauschenden Bewusstseins streifte, flüchtiger Schatten einer anderen Welt, die vor dem Fenster der Küche ausgebreitet lag wie ein frisch bezogenes Laken am Ende eines Zimmers, dessen unsichtbare Wände bereits den Schlaf von Millionen irdischer Nächte gesehen hatten unter einem flimmernden Himmel aus Licht und Nadelspitzen.

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

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