Der Bart ist ab

[I]

Der gestrenge Herr Bürovorsteher macht es sich erst einmal ganz bequem. Denn im Büro ist es doch so ganz anders als zu Hause bei seiner Frau und seinen drei grossen Hunden. Sie waren so weit weg jetzt.

 

[II]

Wirklich, der Bürovorsteher erstickte allmählich unter den vielen Papieren. Da setzt er sich eines Tages hin und gibt eine Annonce auf: „Tüchtige Schreibkraft gesucht.“ Bereits am nächsten Tag klopft jemand an der Tür, und der hat kein Haar auf dem Kopf.

 

[III]

– Wie heissen Sie?

– Der Bart ist ab!

– Wie bitte?!

– Der Bart ist ab!

– Ein ungewöhnlicher Name, das muss ich schon sagen, aber wir haben alle auf Sie gewartet, und der Himmel hat Sie mir geschickt.

 

[IV]

Der Bürovorsteher sass über seinen Papieren und dachte lange nach. Es war ganz sonderbar, aber er wusste gar nicht, worüber er nachdachte. Plötzlich wusste er es: Er dachte über seine neue Schreibkraft nach. Die sass schräg gegenüber von ihm und schrieb und schrieb und schrieb, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Der Vorsteher wusste nicht warum, aber auf einmal dachte er: Der Mensch ist keine Schreibmaschine! Wer so viel schreibt, muss eines Tages todmüde sein. Und lustigerweise, just in dem Augenblick, als er das dachte, entdeckte er in seinen Papieren einen schlimmen Fehler, den er selbst gemacht hatte.

 

[V]

Der Bürovorsteher wusste nicht warum, aber auf einmal redete er seine neue Schreibkraft mit ‚Lieber Freund‘ an. „Lieber Freund, könnten Sie mal kurz herüberkommen und mit mir zusammen ein paar Papiere durchschauen?“ „Der Bart ist ab“ „Ich weiss, lieber Freund, dass Sie so heissen, aber das wird Sie nicht daran hindern, mir kurz einmal zu helfen. „Der Bart ist ab!“ Sonst nichts. Kein Wort sonst! Da schlug der strenge Herr Bürovorsteher mindestens zehnmal auf den Tisch. Dann war es mucksmäuschenstill, und jeder widmete sich wieder seiner Arbeit, als sei nichts geschehen.

 

[VI]

An dem Tag sehnte sich der Bürovorsteher nach seinem Zuhause. Alles war dort an seinem Platz. Auch sein tiefer Sessel. Endlich, endlich, war er darin eingeschlafen. Aber es träumte ihm sogleich: Seine neue Schreibkraft hatte plötzlich wirkliche Stielaugen bekommen und – oh Schreck – so weit traten sie heraus, dass sie sich plötzlich in der Luft von selbst drehten und in ihr eigenes Gesicht starrten. Da stiess ihn seine Frau versehentlich an und weckte ihn, und er rief mit lauter Stimme: „Der Bart ist ab!“ So laut rief er, dass selbst seine drei grossen Hunde herbeigelaufen kamen und ihm erschrocken das Gesicht leckten.

 

[VII]

„Nun wird es ganz unwahrscheinlich. Das glaubt mir keiner: Meine neue Schreibkraft will jetzt allen Ernstes das Büro nicht mehr verlassen. Er hat sich häuslich dort eingerichtet und rührt keinen Finger für die Arbeit. Das ist bestimmt noch keinem Menschen passiert ausser mir“

 

[VIII]

„Heute bin ich in meiner ganzen Verzweiflung durch die Stadt gefahren, um mir ein neues Büro zu suchen. Da waren lauter sprechende Gesichter, die ich sah. Alle sagten nur eines: ‚Der Bart ist ab!‘ Selbst meine Frau und meine drei grossen Hunde sagten es, als ich nach Hause kam: ‚Der Bart ist ab! Der Bart ist ab!‘ Was soll ich bloss tun!“

 

[IX]

Jetzt sitzt der Bürovorsteher in seinem neuen Büro. Auf seinem Tisch liegen Berge von Papieren. Aber er denkt nicht im Traum daran, zum Beispiel eine Annonce aufzugeben. Wenn er ganz müde geworden ist vom vielen Arbeiten, blickt er hilfesuchend zur verschlossenen Tür, und es kommt ihm die ein oder andere Träne, ohne dass er (auch nur) entfernt weiss warum.

 

[X]

Der Bürovorsteher schaute lange aus dem Fenster. Da sah er, in einer grossen Regenpfütze, einen kleinen dunkelgrauen Vogel. Der wusch sich und drehte sich und plusterte sich vor Vergnügen. Und so hatte unser Bürovorsteher gar nicht gemerkt, dass seine Frau und seine drei grossen Hunde auf einmal neben ihm standen. Alle fünf schauten sie jetzt auf den kleinen dunkelgrauen Vogel, der gar nichts von ihnen wusste. Und dem Bürovorsteher lief (abermals) eine dicke Träne über die Wange.

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