Heliozentrischer Feuilletonismus

„Was soll aus Europa bloß werden?“ fragen dieser Tage viele etablierte Vertreter einer, gemessen an der Anzahl ihrer Wirkungsträger doch sehr rar gesäten, publizistisch aktiven Öffentlichkeit ihre (noch) Millionen an Rezipenten. Das ist oft natürlich rhetorisch gemeint, denn die Frage impliziert zugleich eine, zumeist tendenziöse Bestandsaufnahme: „Was ist eigentlich aus Europa geworden?“ und in der Folge ein: „Was war Europa jemals und – für wen?“.

Und diese Fragen können, werden sie im Sinne Marcuses in einer negativ geladenen öffentlichen Stimmungslage („die Griechen sind faul und verdienen keine Hilfe“) gestellt, in Form einer „repressiven Toleranz“ bzw. „repressiven Transparenz“ zurechtgeschwiegen werden. So haben gesamtheitlichere Auffassungen des Komplexes keine Chance, den dumpfen Tenor des Mainstreams auf eine höhere Stufe des Verständnisses zu befördern – und damit auch  progressive, out-of-the-box Lösungen, die nicht nur Schulden, sondern auch Arten der Kooperation umfassen würden, in den Fokus der gesamtgesellschaftlichen Debatte zu rücken — also die Chance zu erkennen ein wirkliches, gemeinsames Projekt zu initiieren.

Doch einer solchen Entwicklung stehen ebenjene Institutionen im Weg, die durch ihre fiskalischen Daumenschrauben eine andere, syndikalistische Politik aus den Köpfen verbannen – genauer: die Chance auf ein notwendig falsches Bewußtsein (natürlich auch von Europa aber eigentlich einer ganzen Welt!), voller Tatendrang und Idealismus, also echten, elektrisierenden Zielen, die nicht nur mehr eine gescheiterte Vision reflektieren, sondern zudem einen Bezug zur Realität – zum zeitnahen Erfühlen von Veränderungsbereitschaft von Denkschemata innerhalb der kritischen Masse einer insgesamt reifenden Gesellschaft.
Wie geschichtlich oft nach einer gescheiterten, ausgehöhlten Ideologie oder Erlähmung einer Macht geschehen, wurde eine Generation von  Desillusionierten geschaffen, die zu großen Teilen eine  Leere verspürt, so dass in der Masse Dumpfheit darin zu gären vermag – und ein Versumpfen der intellektuellen „Klasse“ droht.

Bis zu einem gewissen Punkt vermehren sich sich negative Gedanken, sowie positive Gedanken gegenseitig, das kann gerade für Kampagnen gut exerziert werden, aber es nutzt sich natürlich recht schnell ab, auch im Fall „Europa?!“ wird das so sein, wenn es sogar nicht lange schon soweit ist.
Der existenzielle Widerspruch wird stillschweigend akzeptiert:  dass ein Europa – oder natürlich die Welt – Wettbewerb als Bindeglied von Volkswirtschaften forciert – und diese damit zwingt sich gegenseitig zu verfrühstücken, ohne zugleich offen und ehrlich zu sagen: „Ach komm, das ist nur ein Spiel und vor der nächsten Runde setzen wir eh wieder alles zurück auf Null, ich gewinn ja sowieso“.
Da hätten die Deutschen ja mal wieder so ’ne Fresse, weil sie ja die Feier in ihrem „Haus Europa“ immer bezahlen müssten (-und auf Dauer feststellen würden, dass sich ein übertriebenes Leistungsdenken eben nicht lohnt, sondern nur den Rücken krumm macht). Ja, der Herr der Burg (Festung) bezahlt nun mal die Zeche, das ist im Feudalismus, wie im Neofeudalismus gleich. Und wie bei den Fuggern oder Rothschilds waren die festiven Fürsten und Könige immer schön hoch verschuldet.
Aber jene Kontinuität, ob nun, wie dieser Tage Technokraten an der Macht sind, die dauerhaft abgehört und, wenn sie nicht mitspielen, mit Dossiers erpresst werden, oder ob Olaf der Doofe von seinen verschlagenen Hofleuten manipuliert wurde, die historische Kontinuität der zerstörerischen Kraft des Wettbewerbs um das Kapital ist offensichtlich, somit auch seine instrumentale und sogar klerikal-ritualisitische – und in der Folge dissoziative – Wirksamkeit. Das Stichwort Verteilungsgerechtigkeit lockt, als etwas – so wird es eingeimpft – erstens unerreichbares und deshalb zweitens abzutreibendes, kein Schwein hinter dem Ofen hervor, dabei wird dieser Diskurs doch täglich geführt, nur eben von oben: „Es kann nur besser werden, wenn dies oder das von der Masse genommen wird, das wird denen schon noch zeigen, dass die sich mehr anstrengen müssen.“

Hier kommt dann oft das als antiautoritär verschriene Gegen-Argument der „schwarzen Pädagogik“ ins Spiel und ein dezenter Hinweis auf ein Europa der „verschiedenen Geschwindigkeiten“, nach dem Motto von CDU-Strobl: „Der Grieche hat jetzt lang genug genervt!“ – der Grieche ist ein mongoloides Kind – vorzugsweise eines mit ADHS – das es ja (seufz) zu integrieren gilt. Und – noch bricht es am nur am Stammtisch hervor – das eigentlich nie, niemals – ohne uns – etwas wert wäre, weshalb mit (fiskalischer) Euthanasie gedroht wird: „Lern wenigstens Schuhe für Geld putzen! – und deine Puppe gib in meinen Treuhandfonds solang du Kost und Logis nicht abbezahlt hast“.
Wie eine böse, verbitterte Gouvernante des 19. Jahrhunderts herrscht ein Land (und wird zugleich beherrscht), nicht nur geopolitisch, sondern auch ideologisch; die Talking-Points, die Denklinien sind eingefahren, alles ist katalogisiert und planiert, die Subjekte laufen (besser: rollen) trotzdem blind umher, wozu auch sehen? Der geliebte, wilde Westen ist bereits entdeckt und platt gemacht worden. Und nun folgt eben der dekadent-degenerierte Osten.

Brecht zusammen diese Einöde auf?!! Von unten nach oben wächst dann wieder wieder was und, obwohl danach vielleicht noch immer alle blind sind, können sie sich, unter Umständen, in nicht allzu ferner Zeit, immerhin ein wenig lebendiger fühlen und trotz steter Dunkelheit  des Surrens der Libellen, des Duftes von Blumen und Gras, des kühlen, rauschenden Schattens eines Baumes erfreuen und Platon danken.

Adorno schrieb einmal, es sei barbarisch nach Auschwitz wieder ein Gedicht zu schreiben. Das sehe ich nicht so (und es war von ihm sicherlich auch eher provokativ gemeint – im Sinne einer generellen Kritik an Kultur, da ihr möglicher Missbrauch hin zum Faschismus führen kann). Es ist vielleicht pathetisch, kitschig, verzweifelt (und deshalb humoristisch?) romantizistisch, aber ist es nicht immerhin eine Antwort? Träumende Menschen. Menschen mit Zeit. Menschen mit Würde. Menschen mit Wissen. Menschen, die in heruntergebetete Aufzählungen monetärer Moral dialektisch einbrechen.
Es geht über das „dann gründe doch eine Partei“, „mach dies, mach das“ hinaus, es geht um die Erforderlichkeit des Weckens einer aufgeklärten und zugleich doch auch – warum nicht? – psychoaktiv-mystifizierenden Stimmung im Individuum. Und um dessen folgende Kommunikation zu den Nächsten, damit das Unausprechliche, was Blumenkinder, Revolutionäre, Wandervögel – meinetwegen aber auch Jakobswegler – verbunden hat, gestiftet wird: eine starkes inneres und positives Gefühl, eben nicht modernd-dumpf, sondern tief und leuchtend. („We had all the momentum; we were riding the crest of a high and beautiful wave.“ Fear and Loathing in Las Vegas).
Es bedarf also der Hoffnung und diese Hoffnung kann nur jenseits von Hegemoniedenken und Abschottung, jenseits von Oligarchieschonung und Bankenrettung, jenseits von Vorurteilen und Aufhetzung erwachsen.

Schließen möchte ich mit den für meinen Geschmack skeptischen, aber dennoch bedenkenswerten Worten, die Fernando Pessoa, der berühmte portugiesische Schriftsteller der Moderne dem Protagonisten seiner Geschichte „Ein anarchistischer Bankier“ einst in den Mund legte:
„Was will denn ein Anarchist? Freiheit – Freiheit für sich und die anderen, für die ganze Menschheit. Er möchte sich vom Druck der gesellschaftlichen Fiktionen befreien (…) sie zu vernichten aber zugunsten der Freiheit (…). Denn man kann gesellschaftliche Fiktionen um der Freiheit willen vernichten, um ihr den Weg zu ebnen, aber auch um neue gesellschaftliche Fiktionen heraufzubeschwören, die schon insofern nichts taugen können, als es sich wiederum nur um Fiktionen handelt. (…)
Bei dieser Freiheit die nicht behindert werden durfte, handelte es sich selbstverständlich um eine Freiheit der Zukunft und, in der Gegenwart, um die Freiheit derer, die von den gesellschaftlichen Fiktionen unterdrückt wurden.
Es versteht sich von selbst, dass wir nicht darauf achtgeben brauchten, ob wir vielleicht die „Freiheit der Mächtigen“, der Gutsituierten, all jener behinderten, die die gesellschaftlichen Fiktionen repräsentieren und von ihnen profitieren. Ihre Freiheit ist keine Freiheit, es ist die Freiheit zu tyrannisieren, also das Gegenteil von Freiheit.“

Faron Bebt
schreibt Geschichten mit bunten Botschaften und einem hartem Kern. Immer etwas dogmatisch, aus der Zeit gefallen, verstörend verträumt - wie letzte, angemalte Großstadtbunker --Farbbeton.

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