Zeitraum

Morgenstunde in der sommerlichen Stadt. Auf einmal ist alles ganz still. Der Himmel strahlt hell, sehr hell sogar, doch von der Sonne ist nichts zu sehen. Nur eine dünne, mystisch leuchtende Wolkenschicht kriecht langsam darüber. Ich halte inne, gedenke. Gedenke des Nichts, denn nichts zu wollen oder zu müssen erscheint mir in diesem Moment die erste, wahre Freiheit zu sein. Dann gedenke ich der Opfer von Kriegen, des Hasses und seiner tausend fürchterlichen Erscheinungen, sowie der Opfer meines Egoismus‘. Anschließend all derjenigen, an deren Neurosen ich fast zerbröselte und die mich zugleich so reich mit Wissen beschenkten. Endlich gedenke ich der Liebe die ich erfuhr, weitergab und die ich noch stiften möchte. Kurz darauf setzt das Brummen wieder ein, Kinder spielen laut und Vögel zwitschern vergnügt weiter – und die Sonne zeigt sich. So, als ob sie nie verschleiert gewesen sei.

Vielleicht ist das alles Einbildung, Wunschdenken, eine Traumreise, ein Vergewissern, eine pantheistische Sehnsucht in einer funktionalen, aber traumatisch anmutenden Lebenswirklichkeit. Ich könnte jetzt putzen, mit kleinen Dingen den Tag alltäglich, normativ erträglich gestalten, doch mein Herz sehnt sich nach der goldenen Legende, nach unendlichem Sinn. Der leuchtende Himmel: mein Geist; die Stille: Lauschen nach mir selbst.

Am Ende fallen alle Illusionen ab, alles Gesagte, Geschriebene relativiert sich und übrig bleibt nur Ästhetik – Schönheit, Klang, Berührung. Als Wurm möchte ich wiedergeboren werden, für einen kurzen, staunenden, embryonalen Moment des Innehaltens.
Denn worin unterscheidet der Wurm sich wirklich? Er kriecht und frisst und paart sich und ist ebenso neugierig wie ich – im Rahmen seiner Möglichkeiten. Downsizing liegt im Trend, eine Perspektive jenseits von Neuronengeflechten, Hubbleteleskop und des acht-speichigen Dharma-Rades zu erhaschen wirkt tatsächlich ein wenig verführerisch.
Aber wie ernst meine ich es eigentlich mit dem ‚Aufgehen in der Natur‘? Reicht etwa eine Minute des Gedenkens oder doch nur lebenslange Übung in Gleichmut und Duldsamkeit? Hat die Generation Z eventuell recht  und ein durchschnittliches Leben, also etwas, das mir noch ferner als die Existenz als Wurm erscheint, ist in Wirklichkeit  erstrebenswerter als ich dachte?
Die Stille: Frage und Antwort zugleich. Where do I go? Follow the heavens. Where do I go? Follow the worms. Die Sonne trocknet mein Haar, aus meinen Ohren fließt Wasser ab.

Faron Bebt
schreibt Geschichten mit bunten Botschaften und einem hartem Kern. Immer etwas dogmatisch, aus der Zeit gefallen, verstörend verträumt - wie letzte, angemalte Großstadtbunker --Farbbeton.

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