Alsóörs 2015

1
Der Balaton verspricht seinem Wasser, was Malev den
Passagieren abverlangt: Aus- und Einsteigen bei frei
schwebender Gangway, das Combi-Ticket Schiene-Luft
inbegriffen. Ökologisch? Na, klar – wo soll hier die Ver-
schmutzung noch herkommen? Die Enten putzen sich ihr Gefieder,
der römische Weinkeller lockt mit den neuesten Angeboten.
Die Sprache – das Mysterium schlechthin, pardon, behauptet sich
in jeder Aussage. Der August hängt über dem Wasser und glüht,
kein Pardon! in 1 Meter 20 Tiefe aus. Morgens um sechs
ist hier an den Zehenspitzen die Eisschicht zu spüren, mit der sich
die Seele bald bedeckt haben wird: Attila oder – pardon, wie bitte
war ihr Name? Meyer, Schulze, Lehmann bestellt ein neues Bier,
was antwortet ist nur – Schaum im Gedächtnis. Wieviel Gischt
ist nötig, eine Göttin zu gebären? Kein Pardon für das Gedächtnis!
wenn Zeitgenossen mit immer neuen Hammerschlägen Ereignis
für Ereignis unter der Oberfläche versenken; zurück bleibt all-
abendlich das Zittern eines Spiegels unter den Sternen. Zeitgenossen
versenken sich, die Gegenstände erwachen als Dinge unter einem
Himmel, der als eines der beiden ewigen Phaszinosa der Menschheit
gelten will. Tief in mir, knapp unter der zitternden Oberfläche
flüstert ein Dichter halbverständliche Worte, undeutlich & klar wie die Nacht.

2
Attila ist ein Name von Format.
Attila war ein Ökologe.
Attila brennt sich ein ins Gedächtnis.
Attila schläft. Schläft nur.
Attila ist der Beginn einer Serie von Ereignissen.
Attila war ein Berg.
Attila träumt von einer besseren Zukunft für alle.
Attila hat sein Zaumzeug fest in der Hand.
Attila hat einen Griff wie tausend Monde.
Attila lächelt, lächelt nicht mehr.
Attila hatte ein Erziehungsproblem.
Attila schweigt.
Attila Meyer, Schulze, Lehmann.
Attila.
Ich liebe dich.
Wann treffen wir uns wieder?
Am Balaton, in Alsóörs?

3
Und nächstes Jahr könnte es
ein Tempel sein.
Als vor fünfzig Jahren
die Verse erzitterten
unter der Wucht des
Gewissens war
ich noch nicht auf
der Welt: die Lebens-
mittelindustrie hatte gerade
die wasserundurchlässige Verpackung erfunden, der Papst
war ein Bruder im Geiste.
Kurz danach
feierte jemand seinen
hundertsten Geburtstag, da
war ich schon mit dabei.
Heute
hier in Alsóörs
kündigen sich Vierhundertjährige an.
Der Tempel steht
wie in biblischen Zeiten.

J. W. Rosch
geb. 1967 in Charkiv, lebt in Frankfurt am Main. Gedichte, Prosa, Roman. Bisher bei LLV erschienen: Jokhang-Kreisel. Gedichte und kurze Prosa mit Zeichnungen von Anna H. Frauendorf (2003), Goðan Daginn. Gedichte. Mit Radierungen von Mechthild Mansel (2010).

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