Flucht und Wiederkehr IX

Herr, schnell! Dreh eine neue Zeit,
dass bald wieder bunte Tage werden
einer schwarzmilchig befllissenen Welt!
An vom Eise befreiten Strömen
erlöse uns, die wir selbstverwunschen
nach Vergebung lechzen
als totgeglaubter Friedensspross.

Ewiger Sommer –
weich schimmert Licht.
Dein sanftes Gesicht
streicht  alle Winde,
treibt aus –
ein Lächeln, ein Schwingen –
herzblutig rinnendes Ringen
erspiegelter Zeit.

Erst hell und grün, nun bräunlich –
da welken sie dahin.
Wenn scharf und kühl
ein and’res Windchen weht
und Dunkel täglich wächst
irrt’s klamme Volk
in Klagemut gehüllt
umher,
sucht Holz und Pilz‘
bei feuchten Nebelgeistern.

Schneeweiße Nacht
und
endlos langend rauchen Schlote.
Ausharrend: Halbtote
in engen Verschlägen.
Ein leiser Gesang
ruft an
eine höhere Macht.

Faron Bebt
schreibt Geschichten mit bunten Botschaften und einem hartem Kern. Immer etwas dogmatisch, aus der Zeit gefallen, verstörend verträumt - wie letzte, angemalte Großstadtbunker --Farbbeton.

13 Kommentare

  1. Lieber Faron Bebt,

    ich atme auf: Noch gibt es die Lyrik. Der Herr wird angerufen: Erlöse uns aus dieser schwarzmilchig beflissenen Zeit. Ein bisschen celanisch, ein bisschen goethisch, würde ich sagen, man wird eingestimmt. Ein Gedicht zur jüdischen Leidensgeschichte. Die zweite Strophe spricht von der Zeit vor der Shoah, die dritte Strophe leitet dann über zu 1933, wer jüdisch war, musste sich verstecken, mir fällt der Jüdische Friedhof in Weißensee ein, wo Versteckte hofften, den Nazihäschern zu entgehen. In der vierten Strophe dann die Leiden im KZ, deren sich die Häftlinge angesichts der rauchenden Schlote in ihrer Hilflosigkeit mit leisem Gesang und Anrufung der „höheren Macht“ erwehren.

    Die Sprache des Gedichts ist dem Thema angemessen, manchmal ein bisschen gewollt pathetisch, aber das stört mich hier nicht, das Thema ist groß.

    Gruß, Antigone

  2. Es fehlt in der o.g. Aufzählung noch Rilke, Fontane und ein wenig good old boy Sturm. Zudem trägt das Gedicht eindeutig einen Revolutionscharakter, alles rund um den 7. November des letzten Jahrtausends. Ich tippe darauf wegen des „klammen Volkes“. Ach, und in Deutschland spielt die Szenerie, wo sonst findet man den Klagemut… vermute Schwarzwald oder irgendwas dicht an der tschechischen Grenze. Heute erst stand in der Zeitung, dass auch die Pilze knapp werden im Holz. Tschernobyl, Tschernobyl. Glaubt jemand an Putin als Friedensspross?
    Apropos „leiser Gesang“: Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun etc.

    So, lieber Faron Bebt, und was möchten Sie, genau SIE, uns mit der erneuten Flucht und Wiederkehr mitteilen?

    1. Ich stimme sowohl Ihnen, „literarisches Forum“ wie auch der Interpretation von Antigone zu.

      Ihnen, da Sie zurecht das Passive, sich-ausliefern des Religiösen benennen. Die lyrische Analogie der vier Jahreszeiten, denen der Mensch unterworfen ist und die dahinter stehende Frage, ob die Shoa tatsächlich so einzigartig ist, also ob der Mensch dazu lernt, gewissermassen seine Natur(?) zu überwinden vermag, oder, aufgrund des Vergessens, nicht vielmehr in einem Teufelskreis gefangen ist, der ebensolch einen Zivilisationsbruch doch immer wieder prinzipiell ermöglicht.

      Der Stil der einzelnen Strophen soll sich voneinander abgrenzen, das Pathetische, das Melancholische, das Verträumte, das Zynische, das Verzweifelte als Stilmittel dessen, was – gemeinsam gedacht – gleichzeitig Anlass zu Hoffnung wie auch Anlass zu Sorge gibt. Längere Tage, kürzere Tage, schöne Berührungen, (Schicksals-)Schläge.

      Liebe Antigone, Ihre Interpretation ist durchaus stimmig, doch wie eben bereits angedeutet, habe ich versucht den Text insofern zu gestalten, dass er sowohl Opfer- wie auch Täterperspektiven einbezieht.

      Jede Strophe beschreibt also potentiell beide Seiten. So etwa der Frühlingsspross, der, noch unbewußt seiner Geschichte (des Düngers der Erde aus der er wächst, die schwarze Muttermilch), nicht sprechen kann, nur fühlen – war da mal was? Andere, die nur ihre Erlebnisse, ihre Taten vergessen wollen, Neues aufbauen. Vertriebene, die dem nun wieder eisfreien Strom folgen, der doch nur zurückführt zum Ende, das zugleich der Anfang ist.

      Im Sommer die Jugend, die Leidenschaft, der kitschig-süße Saft, der pocht in allen jungen Leuten, sei es Peter (der mit dem Wolf?!) oder Esther – das alle vereinende Element. Hier ist der Hort des Utopischen, wo die Tage nie enden und allen, ob Gläubigen, ob Zweiflern, ein Schimmer des Elysiums winkt, wo endlich Frieden herrscht. Ein Traum nur, sicher, und doch zugleich das, was mittels eines ’notwendig falschen Bewußtseins‘ die Protagonisten erst dazu veranlasst tatsächliche Veränderungen überhaupt zu antizipieren. Haben Peter und Esther ein Kind?

      Im Herbst dann wieder das klamme (im Sinne von arm wie auch naßkalt) Volk, das den Geistern nachläuft, um vermeintlich sein Überleben im herannahenden Winter zu gewährleisten, dazu die zwischen den Nebeln versteckten Verfolgten. Treffen sie sich im Dickicht, kämpfen sie dann, oder erkennen sie sich als Gleiche, als Ver/Gehetzte, anstatt als irrender Henker und dem Tode geweihtes Lamm? Selbst hier Möglichkeiten zur Revolution.

      Für den Winter stehen sowohl die Schlote der Krematorien wie auch die der Artilleriegeschütze, die die in Stalingrad eingeschlossenen, Weihnachtslieder singenden Wehrmachts-Divisionen (die Madonna von Stalingrad als Symbol dafür) beharken.

      Dazu folgende Anmerkung, „literarisches Forum“: Ja, auch in Aleppo singen sie heute Suren, die Islamisten, ihre Familien als Schutzschilde wie eine Monstranz für die Skrupelosigkeit der anderen, der – wie westliche Medien es nennen – barbarischen Angriffe vor sich hertragend, jedoch unfähig ihre eigene Opferbereitschaft wie auch die Unverschämtheit diese Nächsten als Geiseln zu nehmen kritisch zu hinterfragen! Putin der Friedensspross? So habe ich das nicht gesehen, vielleicht haben Sie aber Recht. Immerhin gab es seit dem Fall Berlins eine lange Periode des Friedens in Europa, wünschen wir es, bei all dem Leid dieses Weges, der über Ruinen (in denen ohne Zweifel etliche verschüttete Kinderleichen verborgen liegen werden, und natürlich: jede eine zuviel) führen wird, auch recht bald dem Nahen Osten.

      Oder, um mit Brecht zu schliessen:

      „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
      Den Vorhang zu und alle Fragen offen. […]
      Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andere Welt?
      Vielleicht nur andere Götter? Oder keine? […]
      Sie selber dächten auf der Stelle nach
      Auf welche Weis dem guten Menschen man
      Zu einem guten Ende helfen kann.
      Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
      Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“

  3. Er ist der Dandy unter den Schimmelpilzen: Gespreizte Elegien, gepfeffert mit einer wüsten Süßigkeit, dass ich – und ich habe (noch) keinen Alterszucker – nach der Insulinspritze schreien möchte. Kurzum: Der wahre Diléttant in diesem Blog.

  4. Faron Bebt,

    die Metapher „schwarzmilchig“ bzw. „schwarze Milch“ ist unverrückbar besetzt mit der Shoah durch Celan. Wenn sie sie in einem völlig anderen Zusammenhang benutzen, dann ist das eine ziemlich flache Geschichte und hat einen Hauch von Plagiat. Und der Rückgriff auf Goethe gibt nur im Zusammenhang mit der Shoah einen Sinn, ansonsten zeugt er eher davon, bei anderen Dichtern anzulanden. Muss ich meine Interpretation zurücknehmen? Ich tu es hiermit, tut mir leid.

    Gruß, Antigone

  5. schüchterne anfrage mit schämreferenz: ist es nicht vielleicht auch möglich, dass sich hier noch zweitens und drittens und … auf ganz andere txt.e bezogen angeschlossen angezogen wird? schwarzer gießkannenschimmel? schwarz und weiß gleich g(rau) … niemand schneidet einen sinn ab, der das unterschiedlich an-sinnt. soviel der profanen germanisten-logk äh- der ist kein dilèttant, der auf dem post-amt das mahlzeitsagen vergällt.

    äh klobig ääh lobig…

    oder was?

  6. Ist es nicht entsetzlich zu glauben, die Weisheit für sich gepachtet haben? Und das Recht. Und die Ernsthaftigkeit. Und die Lyrik…selbstredend.
    Der Gang nach Canossa, eine Umarmung in Versailles, der Kniefall in Polen, ein unscheinbarer Zettel im November, eine Frühlingsrede in der Knesset, der Buß-und Bettag.
    Und sonst: vom hohen Roß fallen, der Fall nach dem Hochmut, der voreilige Schluss. Das Wissen, das besser ist als alles andere. Die Überzeugung, der Stolz.
    Schluss.
    Obwohl: die Schadenfreude…

  7. Gemäß meiner Optik erinnert die Wortlandschaft eines Gedichts in erster Linie an eine andere Landschaft, eben die eines Gedichts, eben eines anderen. Intertextualität als Rezeptionsphänomen meint nicht die zufälligen Assoziationen beim Lesen, bspw. eines Verses, mit dem Ausspruch eines rezenten oder bereits verwelkten Politikers, nicht mal im Falle Brechts, der wohl in fast jeder Hinsicht als Ausnahme von der Regel gelten kann. Soviel zunächst zum Unterschied zwischen wüstem Assoziieren und kontrolliertem Interpretieren. Obiger Text, der neunte in einer Folge von Prosatexten, ist ein Umschalter: knipps macht aus Prosa nun Lyrik. So wird aus dem bisherigen Gedankenwust nun plötzlich der graphisch klar überschaubare Versraum. Das macht es leichter, sich am Ende nicht nur an den Anfang, sondern an den ganzen Weg von dorther hierhin zu erinnern. Und dabei helfen nun die Assoziationen.
    Da sie aus der Lektüre eines poetischen Texts erwachsen, wäre es sehr verwunderlich, wenn sie ganz ohne Bezug zu seiner Spezifik blieben. Nunja, es gibt natürlich eine Differenz zwischen Massenpublikum und spezialisierter Exegese…

    (Fortsetzung folgt)

  8. Mir ist nicht einsichtig, was, außer Titel und fortlaufenden Nummern, die Texte überhaupt miteinander (locker) verbindet. Ganz abgesehen davon, dass mir die Formwahl geradezu beliebig erscheint. Aber das muss keine (Lese)fehler sein.

  9. Der Anfang ist frappierend. Als ob sich die Zeit drehen ließe – wie eine Zigarette. Ein in seiner Sprache abgestürzter Rilke. Bestürzend.

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