Berlin am Morgen

Die Straße menschenleer in dieser Frühe,
ein Laster donnert über den Asphalt.
Die Stadt erschöpft von ihres Tages Mühe,
was war, ist lang schon von ihr abgeprallt.

Am Horizont verkümmern letzte Sterne.
Die Stadt im Schlaf, ein grummelnder Moloch.
Geräusche hin und wieder aus der Ferne –
man träumt sich eins, und sei es bloß jedoch.

Antigone
Weder gewesene Pionierleiterin, Mitglied des Politbüros oder gar Geliebte des Staatsratsvorsitzenden (wie hier vermutet), sondern schlichte DDR-Bürgerin, nunmehr für 18 Milliarden DM zusammen mit 17 Millionen DDR-Bürgern zwangsweise verkaufte Bürgerin des Staates BRD. Hanna Fleiss: geb. 1941, wohnhaft in Berlin, Veröffentlichungen: zwei Gedichtbände "Nachts singt die Amsel nicht" und "Zwischen Frühstück und Melancholie" sowie in zahlreichen Anthologien und im Internet.

2 Kommentare

  1. Guten Abend, Antigone. Ein Gedicht das schon deshalb gefällt, weil es weder Moralin noch Belehrungen enthält, die so niemand mehr braucht (… der werfe den ersten Stein …). Dieses Gedicht (ver)urteilt nicht, sondern zeigt die Wirklichkeit. Es fängt eine raue großstädtische Morgenstimmung gut ein. Sehr gelungen auch die Reime Asphalt-abgeprallt und – überraschend – Moloch-jedoch. Nur der Vers „Die Stadt erschöpft von ihres Tages Mühe“ passt hier nach meinem Empfinden nicht ganz hinein, weil er gerade keinen Morgen-, sondern einen typischen „Abendzustand“ beschreibt. Auch mag man sich mitunter eher fragen, ob sich eine Stadt wie Berlin überhaupt jemals erschöpft zeigt (was mir in der 2. Strophe auch anzuklingen scheint). Ihnen einen schönen 2. Advent.

  2. Danke, Jens Rudolph, schön, dass wir uns hier mal mit der Literatur beschäftigen. Selbstverständlich, die Passage „des Tages Mühe“ beschreibt den abendlichen Zustand. Wenn ich aber ihn auch als morgendlichen Zustand beschreibe, dann wird deutlich, dass diese Stadt niemals wirklich ausgeruht ist, ob Tag, ob Nacht, diese Stadt „arbeitet“ immer, und das will ich sagen. In der zweiten Strophe drücke ich mit „man träumt sich eins“ aus, dass die Menschen gezwungen sind, ihre Erschöpfung zu verdrängen, nach dem Motto „Das Leben geht weiter“. Das ist natürlich alles eine Interpretationsfrage.
    Auch Ihnen einen schönen 2. Advent.

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