Erhaltung von mehr und weniger [3, 2]

Der Kühlschrank wurde immer leerer. Wir hatten uns darauf verständigt, entgegen den Gewohnheiten des planenden Geistes der Freiheit keinerlei Fesseln anzulegen: Wer Hunger hätte, sollte irgendetwas mitbringen. Immerhin gab es ja hier einen Herd, und die von Tag zu Tag stärker werdende Sonne kitzelte schon gehörig an den Nervenenden. Ob nun auf der Haut oder an den dünnen Stellen der holzigen Zylinder vor dem Fenster, überall regte sich der Frühling und kündigte dem Leben sichtbare Veränderungen an. Es war eine Sehnsucht nach Veränderung, die in der Luft lag, und manchmal erklang Musik.

Wir lebten auf mehreren Ebenen. Es war noch nicht ganz klar, ob sie sich irgendwo schneiden würden. Vorerst sah es aus, als seien Sehnsucht, Außentemperatur und Kühlschrank drei parallele Welten in einem Gesamtuniversum chaotisch zitternder Bestandteile, von Freunden der Zufallsdeutung einmal Temperatur genannt. Mal zitterte es mehr, mal zitterte es weniger. Im Ganzen aber war klar, dass auf heute morgen folgen würde, so wie auf gestern heute gefolgt war.

Wir begannen zu experimentieren: es waren noch einige Spaghetti da; erste und zweite Welt dehnten sich in die prinzipiell gleichen Richtungen. Dein Hunger wuchs schneller als meiner, obwohl auch meiner im nichtharmonischen Mittel streng monoton anstieg. In den Nächten blieb es schon wärmer als im Kühlschrank. Das Zylinderbündel vor meinem Fenster ging über Nacht in eine neue fraktale Phase über, von deinem Fenster aus hätte man den Blick in genauer Richtung des Herzschlags wenden müssen, um seiner grünen Iteration gewahr zu werden. Zwar gab es schon Fundamentalgruppen, aber die Fundamentalisten hingen fast alle noch im Spektrum zwischen rot und schwarz.

Niemand wollte der erste sein – die Verabredung war und blieb heilig. Legte man drei Spaghetti windschief in den Raum unter der Küchenlampe, konnte sinnvoll gefragt werden, ob sich die zugehörigen Vektoren irgendwann einmal berühren würden. Außerdem gab es da noch die Anfrage nach dem Wesen des Glücks: Welche Erscheinungen müssten in den Blick genommen werden, um sie in absehbarer Zeit beantworten zu können? Nachdem der Ketchup zur Neige gegangen war, blieb nur noch Senf. Logischerweise warst du es, der zuerst einkaufen ging.

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

2 Kommentare

  1. Zäh und alt. Zustände ändern sich
    Nicht. Was nicht mehr genießbar ist,
    kann auch nicht
    verwertet werden.
    So mancher Erfolg
    Wurde entwertet.
    Wiederkehr des Immergleichen.
    Was ein Glück ist?
    (vielleicht eine chemische Einheit, wer weiß…)
    Steak essen wir
    Schon lange nicht mehr
    Fleisch ist nur
    Ein Stück.
    Schon fällt der letzte Schnee
    Sehen wir ihn uns an.

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