Schutt (5)

Schutt, was ist das überhaupt, eine Anhäufung von Bruchstücken, etwas, das einmal größer war, das verwittert und erodiert ist, und immer noch verwittert und erodiert, Bruchstücke, sich immer weiter aufsplitternd, erst irgendetwas Großes, dann Blöcke, Blockmeere, und sie zersplittern weiter, Schotter, Geröll, Kiesel, Sand, und die können ja auch wieder versteinern, wieder größer werden, oder sie verschwinden, Sand, Staub, Wind, oder sie werden wieder eingeschmolzen, wieder zu glühender Lava, jedes Bruchstück eine Erinnerung, eine kantige oder abgerundete Erinnerung, man kann sie wieder auflesen, bevor sie ganz verschwindet, und noch mehr Bruchstücke suchen, die vielleicht dazugehören, oder auch nicht, man weiß es nie, und man kann sie auf einen Schreibtisch legen, das Bruchstück, irgendein Bruchstück, in irgendeinem Blockmeer gefunden, es wieder und wieder in die Hand nehmen, es wenden, von allen Seiten betrachten, und Gedichte darüber schreiben, darüber meditieren, und dann, wenn im Winter die Sonne tief steht, und alles lange Schatten wirft, dann taucht sie plötzlich auf, auf dem Bruchstück, die Erinnerung, eine Spirale vielleicht, ein Ammonit, nur der Abdruck eines Ammoniten, und sooft man dann auch wieder in das Blockmeer zurückkehrt und alles absucht, der Ammonit, die originale Spirale aus Perlmutt, bleibt verschwunden, für immer verschwunden, nur der Abdruck ist noch da, in der tiefstehenden Wintersonne, und da kann man wieder Bruchstücke sammeln, und aus den Bruchstücken Steinmenschen, Steinfrauen und Steinmänner errichten, Bruchstück auf Bruchstück schlichten, Steinfrauen und Steinmänner aus Erinnerungen, aus Erinnerungen, die vorher vielleicht nicht zusammengehört haben, jetzt aber zusammengehören, unbeweglich stehen sie da, diese Steinfrauen und Steinmänner, zeigen den Ort, wo man schon gesucht hat, wo man keinen Ammoniten gefunden hat, und irgendwie gibt es ja auch nur ein Original, aber immer zwei Abdrücke, immer zwei Spiralen, uns es kann ja auch passieren, dass sich der Abdruck wieder füllt, gefüllt wird von irgendetwas, der Abdruck eines Abdrucks entsteht, der Abdruck einer Erinnerung, die selbst wieder zur Erinnerung wird, und so ins Unendliche, und da stehen die Steinfrauen und Steinmänner, stehen inmitten des Blockmeeres, stehen da im Sommer und im Winter, im Schneesturm und im Regen, und sie weisen uns die Wege, weisen die Wege durch die Block- und Kieselmeere, und diese Meere finden wir überall, finden sie auf dem Ružovský vrch und in der Czarny Kociol und am Elbufer, wenn das Wasser niedrig ist, und an der Ostsee vor Swantegard und natürlich auch mitten in Leipzig und mitten in Berlin, aber nicht immer sind sie oben die oberste Schicht, oft ist da schon längst der Urwald darüber gewachsen, oder eine ganze Stadt, oder eine Stadt auf der Stadt auf der Stadt, Schicht für Schicht, und dieses Blockmeer finden wir nur wieder, wenn wir graben, wenn wir da unten Kanäle oder eine U-Bahn bauen, aber manchmal haben wir Glück, und da liegt der Schutt herum, unter den Büschen, neben dem Spielplatz.

Wassili Busskläff
Finnegans Wakes, 5,5 ff.: „Of the first was he to bare armes and a name: Wassaily Booslaeugh of Riesengeborg. His crest of huroldry, in vert with ancillars, troublant, argent, a hegoak, poursuivant, horrid, horned. His scutschum fessed, with arches strung, helio, of the second. Hootch is for husbandman handling his hoe.“ Das ist die einzige Erwähnung W. Busskläffs in den Quellen.

27 Kommentare

  1. In diesem Sinne sind die Inskriptionen Schutt. Bruchstücke, die nach und nach verschwinden. Damit sie nicht gänzlich aus dem Blickwinkel geraten, werden sie fleißig kommentiert. Auch nach Tagen, Wochen, Monaten und Jahren. Was für ein Glück.
    Mit Dank an die Schrottsammler und Nachlassverwalter,
    Rapunzel.

  2. Auch ich schließe mich rapunzel an. Dank an die Sammler und Nachlassverwalter. An die Geschwister kleist, rapunzel, crysantheme und ihre anderen Geschwister. Sie verwandeln den Blog mit ihrem fleißigen Sammeln, ihren Kommentaren in eine eigene literarische Form. Eine fließende literarische Form. Geniale Idee. Texte tauchen unter, tauchen wieder auf, werden kommentiert, umgeschrieben, ersetzt, und die Kommentare passen nicht mehr zum Original, der Text nicht mehr zu Kommentaren, aber auf einer Metaebene dann doch wieder. Ein Netz, an dem immer weiter gearbeitet wird. Geflickt. Neugesponnen. Fäden vertauscht. Ein Gehirn, dass sich ständig umschreibt. Nochmal, geniale Idee. Und das ganz losgelöst von diesem Literaturbetrieb. Ganz ohne Verdienst. Ohne Aussicht auf einen Preis. Aufs Berühmtwerden. Seit der Gründung 2007. Und das in einer Zeit, wo man leider zu viele Dichter trifft, die mehr über den Betrieb als über die Literatur sprechen. Aber hier, in diesem Blog, dank der Schwestern kleist, rapunzel und crysantheme, hier entsteht die Literatur, unbemerkt vom Betrieb…

  3. Jo. Danke dann mal. Und: Gerne. Was sollen wir sonst machen mit unserer Zeit? Waste it. Hemmungslos. Mit leeem Hirn träumt es sich besser, als schütten wir vorm Zubettgehen all die angesammelten Wörter aus. Und zwar auf diesen Schuttberg! Besser hier als aufm Grabbeltisch von Thalia, Hugendubel und Co.

  4. Willi hatte sich eine neue Arbeit gesucht – und tatsächlich auf gefunden! Klopfet an, so wird euch aufgetan, heißt es im Märchen. Auch vor Willi tat sich etwas auf. Er hatte umgeschult zum Baggerfahrer, nachdem ihm der Kindertraum vom Kranfahrer aufgrund mangelnder Führungsfähigkeit untersagt worden war. Doch nun durfte er baggern. Direkt vor meiner Haustür. Der Lärm war unterträglich.

  5. Zu 1.): Leider stimmt das nicht ganz. Nicht die Inskriptionen sind Schutt, sondern sie sind ein Raum, in den Schutt eingestellt, besser: geschüttet (um im bilde zu bleiben) wird, bzw. jemand sich dieses Raumes bedient, um einen Text namens Schutt zu schreiben und überdies auch noch den Begriff zum Thema seines Textes zu machen.

  6. Wann zerfällt etwas, das Eins ist, in Bruchstücke? Ab wann kann man von Schutt sprechen? Ist der Gedanke Eins? Ist der Kopf Eins? Ist ein Text Eins oder schon ein Bruchstück? Ist das, was nicht im Text steht, ein Bruchstück des Textes? Finden wir die Bruchstücke durch Dekonstruktion des Textes? Sind die Worte schon Bruchstücke? Sind zwischen den Texten der Inskriptionen Bruchstücke? Sind ein Text und ein Kommentar dazu die Zwei oder ein neues Eins? Gletscher fließen. Vielleicht fließt auch der Schutt. Ein Strom. Was heißt Bagger. Nein. Jeden Stein umdrehen. Einzeln. Bei jedem Licht. Und dann eine Spirale legen. Ins Gras im Clara-Zetkin-Park. Die Spirale entlang gehen. Nicht von oben darauf sehen, sondern die Spirale entlang gehen. Die Spirale sein. Sich in die Spirale eindrehen. Was dann? Was tun in der Mitte der Spirale?

  7. genau das ist der punkt: recyling! schutt und müll mögen vielleicht achtlos weggeworfene oder – geschüttete dinge sein, die aber mit diesem brutalen akt nicht ihre Bedeutung verlieren. die bleibt. ein teekessel ist ein teekessel, auch wenn er ein rostiges loch hat. und die schüssel mit dem sprung kann immer noch Obst beherbergen.

  8. Ich habe mal ein wenig recherchiert, wie gern man hier das Wort „Schutt“ benutzt.

    Frau kleist schrieb am 6. Juli 2017, der Ausgangspunkt der aktuellen Häufung:

    „Mir zur Feier. Der kreative Schutt, die Gladiolen, das Gras. Weiß und Grün.“

    Und Werner Weimar-Mazur schrieb am 30. September 2016:

    „fließen stimmen den abhang der zeit hinab
    drängt gedankenschutt zu tal“

    Und J. W. Rosch am 2. Juli 2014:

    „wo Zeit – – nichts ist als Brummen, Flimmern, Berührung im Schlaf – und die Besinnung eine Aufgabe für den Traumberg im Schutt: inneren Sinn / mit der Zunge das Gewölbe // erahnen ( & die Welt eine Höhle unterm Himmel, Beleuchtung von Synapsen auf einer Buhne aus Unlust“

    Und chlebnikov am 30. November 2013 in dem Text „Auf der Halde“:

    „& warum muss dieser planet zertrümmert werden, Schutt zu Traum zu Schutt“

    Und der admin verkündete ebenfalls am 30. November 2013, zwei Stunden zuvor:

    „ihr könnt nun eure beiträge traumschutt-kategorien zuordnen“

    Und, ja, eine Schüssel mit Sprung ist doch viel viel interessanter als eine ohne Sprung.

  9. Liebe Crysantheme,
    das befürchte ich auch. Nicht die Solopartie, in der man durchaus glänzen kann. Doch was nützt die Solopartie ohne Applaus? Davon lebt der Künstler. Hat er ihn nicht, ist er mangels Theaterbesucher spärlich oder bleibt gar aus, setzt das Entgleiten ein. Und das macht mir Sorge: Zynisch wird er, der Künstler. Im besten Falle nur verschroben, aber immer ein Selbstbespieler vorm Herrn. Mal ehrlich: Masturbation bringt Spaß, entschädigt aber nicht für einen gepflegten Zweier oder flotten Dreier.
    In diesem Sinne rate ich dazu, das bzw. Ihr Theater aufgrund Alleinunterhaltung einzustellen. Das Stück „Ich bin Viele“ geht in die Sommerpause. Neue Spielzeit im Herbst.

  10. Wollen Sie das jetzt ernsthaft so stehen lassen? Falls Sie Gäste erwarten, wäre es an der Zeit, den Schutt beiseite zu räumen und frische Luft rein zu lassen.

  11. Lieber Intendant,

    natürlich ist der Applaus etwas sehr Schönes. Aber die Aufführung auf einer Bühne ist ja nun mal etwas anderes als ein Gedicht. Etwas komplett anderes. Natürlich leben die SchauspielerInnen, die RegisseurInnen, die Bühnen- und KostümbildnerInnen vom Applaus. Sie sind ja da. Auf der Bühne. Und die Gäste sind da. Eine zufällige Versammlung. Sie schauen sich an. Sie hören sich. Sie spucken sich an. Sie riechen sich. (Nebenbei bemerkt: bei Premieren besteht das Publikum mindestens zur Hälfte aus Theatermitarbeitern und beruflicher Presse, also kaum Gästen von draußen.) Und natürlich geht es da ums Geld. Einen Text aber, lieber Intendant, den schreiben sie allein. Dann ist er geschrieben. Da liegt er herum. Oder er wird gedruckt. Oder, natürlich, auch mal vorgelesen. Da fehlt meist die Versammlung. Da gibt es keinen Applaus. Höchstens mal ein Lob von ihren Freunden. Romane und Gedichte sind Briefe an Unbekannte, liest man immer wieder. Das ist wie mit einer Flasche Wein. Die Winzerin weiß, ob ihr Wein gut ist. Die Winzerin weiß nicht, wer die Flasche später aufmacht, oder trinkt. Ist sie zu jung, schmeckt sie vielleicht nicht. Ist sie zu alt, auch nicht mehr. Manchmal gibt es Phasen, da ist der Wein miserabel. Und dann wird er plötzlich wieder gut. Den trinkt dann einer allein. Da kann es aber auch passieren, dass der 100jährige plötzlich schlecht wird, wenn sie ihn aufmachen. Wegen der frischen Luft. Kennen Sie diesen Film „Roma“ von Fellini? Da gibt es diese Szene, wo sie in den Untergrund Roms hinabsteigen und herrliche farbenfrohe Fresken sehen. Dann zieht es. Frischer Sauerstoff. Die zweitausend Jahre alten Fresken verblassen sofort. Nein, Herr Intendant. Wir setzen hier unsere Kinder in die Welt. Was aus ihnen wird, das können wir nicht beeinflussen. Sie leben selbst. So ist das Leben. Eitelkeit und Zynismus helfen da nicht. Das muss man aushalten, dass der Applaus manchmal ausbleibt. Beherrschen sie ihre Züge. Auch ein Gedicht, dass sie um drei Uhr Morgens auf dem Augustusplatz rezitieren, und keiner hört es, weil sie der einzige sind, der da ist, auch das Ungehörte verändert die Welt. Man muss es einfach tun. Dann ist es da. Probieren sie das mal. Schreiben sie ein Gedicht und rezitieren sie es auf einer Wiese.

    Herzlich,
    Ihr Rotkaeppchen

  12. Liebes Rotkäppchen nebst anderer netter Pseudonyme.
    Auch wenn du fleißig einen lieben, langen Brief geschrieben hast, so muss ich dennoch sagen: Das ficht mich nicht an. Grund: Themaverfehlung wegen fehlender Diskussionsgrundlage. Die kommt sicher wieder. So wie die Gäste, das Publikum. Nach einer Sommerpause.
    Gehab dich wohl, lass ein wenig Ruhe einkehren.

  13. Am besten halten Sie es mit den Bewohnern von Bummelshausen: „Morgen Morgen, nur nicht heute liebe Frau Bürgermeister.“

  14. Eh, drück dich mal klar aus, das geht mir sowas von aufm sack dieses dreimal um die Ecke denken. Bringts die spaß?

  15. es jmd. beischieben = welcher Mundart entstammt dies nur? Das wäre mal ein wahrhaft unbekannter Rubin in meinem Mundart-Kabinett.

  16. Es handelt sich hier um die Kategorie des Negativen, die uns sehen läßt, wie in der Weltgeschichte das Edelste und Schönste auf ihrem Altar geopfert wird.

  17. Herrn B.`s Mutter fühlte sich zu wenig geliebt und erwartete, dass man ihre Wünsche erriet und erfüllte. Geschah dies nicht war sie beleidigt und drohte wegzugehen, dann war es zu spät für Liebesdienste. Da der Vater viel arbeitete, war Herr B. oft mit seiner Mutter allein.

  18. „und so ins Unendliche“, und weil ich nie die Gelegenheit gehabt hatte, mir die Terrassen von Baalbek selbst anzusehen, in unserem Bücherschrank, von Mama verlassen, aber dieses französische Buch mit den verrückten Prosagedichten fand, das offenbar jemand geschrieben hatte, der sich für den König der Tafelrunde hielt, schrieb ich meinen ersten richtigen Text, über das was einem wie mir nachts in einem Heiligtum wie jenem hätte widerfahren können, wäre das Theater im 2./3. Jahrhundert nicht auch schon lange tot gewesen. Später, an einem fernen Ort zu einer ganz annderen Zeit, schrieb einmal einer, der zuzeiten als mein Schüler gehandelt worden war, an einen Jungen wie mich die folgenschweren Worte: ‚Hören Sie auf, solchen Quatsch zu lesen!‘ Und nun, ich bin längst gestorben, weiß ich – es hätte schon damals besser geheißen: „und wenn sie nicht gestorben sind, dann und so weiter“.

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