Am Ufer: Hildegard
Am gestrigen Abend, mit Feuerwerk und Krawall-
demonstration der eigenen Meinung, Volks-
Herrschaft von Söhnen ihrer Väter, Mutter in
das weiße Kopftuch aus Wolken gehüllt,
Ging für mich das 20. Jahrhundert zu Ende.
Was vor dreiundneunzig Jahren begonnnen,
fand nun seinen Abschluß in der
Mitternächtlichen Hitparade der Sterne hoch
oben im schwarzen Samt, so weich ver-
Hüllt wie ein Staubkorn im Ozean.
Aus der Unermeßlichkeit strahlender Augen,
mit der Stimme einer Überlebenden,
Durch die letzten Signale eines blinkenden
Weltraumkörpers hörte ich, ein Kind
Von vierzig Jahren deine Frage – keine Frage.
„Es ist doch so, daß man im Traum
die Welt sieht, man sieht sie
Immer wieder, damals, diesen kleinen
kleinen Schmetterling vor dem Fenster
Meiner Küche, und dann lag er und schlief.“
Einer fragte nach Blumen und Sonnenschein,
du lebtest im Schatten der Erde, dein
Söhnchen strahlte in dich hinein – ach
immer wird es so strahlen nun, du
Gabst ihm ein menschliches Gesicht…
Wie sah es aus in jenem Jahrhundert,
da das Korn am Reißbrett gezüchtet ward,
Als der Wahnsinn seine eigene Stimme ver-
nahm und sich leise leise sagen hörte:
Bruder, mein Bruder, ich bin du – du bist hier.
Begonnen hatte es wie üblich mit dem
Glück, das versucht war sich mitzu-
Teilen – es ging wie so oft noch nicht auf;
später war es dann der Hunger, aus dem
Mit Kanonendonner Geld wie Stahl hervorblitzte.
Einige hat es gegeben, die mußten ihre
Augen verbrennen in diesem unerbittlichen
Feuer, es schwelt noch immer durch den
Herbst dieser Welt und fegt nun als
Wasserwalze übers Körpergebiet der Klimazonen.
Auch der Träume gab es viele in jenem Jahr-
hundert, manches wurde wahr – das Wenigste
War es wirklich wert gewesen, den Synapsen-
wald mit Denkkraftverstärkern so sehr
Unter Druck zu setzen wie den Kessel deines Erdenlebens.
Zuerst tuckerte hinterm Berg ein
stolzes Automobil, später zischte die
Eisenbahn den Mond an, nachts, wenn
niemand mehr zuhörte außer dem Gras
Unter den Bäumen vor dem Fenster der Küche.
Die Schafe im Stall hörten irgendwann auf zu
blöken, heute lernen sie fremde Sprachen
Und versuchen der Sonne zu folgen auf ihrem
Weg durch das große Tal, das unter ihren
Füßen die Vergangenheit mit der Zukunft vereint.
Die Mitte war nicht die Mitte, die Mitte war
das Ende, und der seitdem die Lufthülle
Füllende Staub wird sich nie mehr zur Ruhe
setzen: Feuer, Wasser, Erde, Luft – so
Viel Freude verteilt sich für nichts. Aber später
(Das bist alles du; laßet die Kindlein
zu mir kommen – kein Samenkorn
So eigen wie der Mensch, Kindlein eines
Vaters und seiner Mutter – kein ver-
Fluchtes Geschlecht so sehr Samen im Korn)
Sollte es die Liebe sein, der Mensch, seine
Mutter und nichts als die Liebe, womit sich
Die Annalen der Erde füllen durch Zeichen
aus Wasser und Luft – nur das Feuer,
Langer Bart des Holzes, sei dem Licht fortan eingefügt.
(…)
29.10.2007
Mutig – dieses Gedicht! – eine Abrechnung mit dem Jahrhundert, kein Meerschaum zwischen den Zeilen und dennoch Hingabe ans Ästhetische vor dem Hintergrund einer verflossenen Zeit.
Hildegard Rosch (28.10.1914 – 07.07.2010)
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mit Schlüsselbein &
AUGENTRICHTER —
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Hannah (29.10.2010 –