Sonnige Abschnitte (2)

Natürlich hatte Mutter vorher jede noch so kleine Spur, die sie verraten könnte, unkenntlich gemacht. Hatte aus allen Briefumschlägen ihre Adresse herausgeschnitten, aus allen Kassenzetteln die Nummer ihrer Bonuskarte. Jedes Mal wurde es schwieriger, den Müll zu entsorgen. Mehr und mehr Mülltonnen waren mit einer Kette verschlossen. Oder standen hinter einem verschlossenen Tor. Und wo nicht, da lauerte einer, brüllte aus dem siebten Stock herunter: „Dich zeig‘ ich an!“ Schnell, so schnell sie konnte, rannte sie weg, nicht wissend, ob der die Nummer vom Auto aufgeschrieben hatte.
Manchmal traf sie die anderen, die genauso wie sie den Müll entsorgten, die Troglodyten. Die wohnten in Räumen, am Ende von Schächten, in die das immer gleiche Licht fiel, am Morgen, am Mittag, am Nachmittag, am Abend. Immer das gleiche, eigenartige Licht. Monochromes Tageslicht. Manchmal traf sie auch die Akolythen. Die standen an der Straßenkreuzung um ein leeres Ölfass, in dem irgendetwas verbrannte, schwarzer Rauch stieg auf, erst kringelnd, dann spitz nach oben steigend.

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Standen um die Tonne herum und starrten auf ihre Smartphones, auf denen irgendetwas geschah. Ein Kater vielleicht, der auf einer Sommerterrasse versuchte, seinen Kopf aus einer Plastedose zu befreien. Eine Figur mit unendlichen vielen Leben, die immer wieder versuchte über den selben Abgrund zu springen und immer wieder in die Speere stürzte. Die Akolythen bemerkten Mutter nicht. So viele Leben, die aus den Händen rutschen. Ohne zu fallen. Immer wieder. Glibberig. Vergeblich die Versuche, diesen Pudding an die Wand zu nageln, zu schrauben. Je fester die Hände zupacken, um so schneller rutschen die Leben. Formlose Ungeduld. Vertrauen auf die Zukunft. Aber geduldig sein kannst du nur, wenn du der Zukunft vertraust. Wenn du heute keine Angst vor dem Morgen hast. Was Mutter nicht wusste, war, dass sie gemeinsam mit den Troglodyten und den Akolythen am Rande einer verborgenen Geometrie lebte.

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Die Straße, wo der Vater im Auto wartete, war ein Schlauch, wie die Straße daneben, wie die anderen Straßen. Gebaut von Architekten, die Topfpflanzen im Treppenhaus als Grünflächen zählten. Vater hatte Angst. Dass sie Mutter entdecken würden. Dass man die Schläuche mit Polizeikordons umzingeln würde. Und die Straßen durchkämmen. Darum hatte Vater seine Taucherbrille, die er immer im Auto hatte, von Mutter entsorgen lassen. Zwanzig Jahre hatte er sie im Auto gehabt. Doch jetzt hatte er im Radio gehört, dass sie einen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt hatten, in Hamburg, sechs Monate, wegen einer Taucherbrille, einem Stadtplan und einem schwarzen Pullover. An einem sonnigen Tag.

Eleadora Stein
geb. am 12. 6. 1954 in Wilkau-Haßlau, ist eine vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Übersetzerin und eine der bekanntesten zeitgenössischen deutschsprachigen Autorinnen. Nach ihrer umfassenden Kritik an Sprach- und Bewusstseinsschubladen befasste sich Stein vor allem mit dem fortschreitenden Verschwinden des Subjekts. Frühwerke wie „Pilzbeschimpfung“ und „Versuch über den Mut“ machten sie in den späten 1970er Jahren schlagartig bekannt. Bei der Wiedervereinigung der 1990er Jahre vertrat sie vereinigungskritische Positionen gegenüber der Mehrheitsmeinung.

16 Kommentare

  1. Das kurze hat mir noch besser gefallen. Obwohl die Langversion weit ausschreitet, um sich mit aller Entschiedenheit vom Ausgangspunkt zu entfernen. Ich kenne das, es unterläuft. Wie in der Sonne aufgetautes Eis, nun sind die Streifen schlierig, bei Sonne sollte man übrigens nicht Fenster putzen. Es unterläuft, während man versucht, was an die Wand zu nageln. Wir hatten mal so gelben Pudding zu ner Party, durchsichtiges Gelb, wie Textmarker, Sorte: Zitrone, nicht mit Wasser, sondern mit Whisky gekocht. Der wurde dann in kleinen Portionen verfüllt. Ich habe so das Gefühl, das hier könnten zwei, drei Muttertexte sein. Und Vater hat da auch genug Raum. Das Auto schein ja wasserdicht zu sein. Hoffentlich reicht der Sauerstoff noch eine Weile aus.

  2. so baute meine Generation mit guten Politikern unsere BRD auf: „Etwas lernen, etwas leisten, gut verdienen, anständig u. ehrlich seine Steuern zahlen, ordentlich was auf die hohe Kante legen – und das alles nicht übertreiben damit man genug Zeit u. Muße hat, sich den angenehmen Seiten des Lebens zu widmen u. zu erfreuen“……… Fazit 2016: Was blieb davon??

  3. Haben Sie in Ihrer Wohnung eigentlich noch Platz für einen Gast? Oder ist die Matratze aufm Sperrmüll? Bestimmt muss man sich da zwischen Schreibtisch und Schrank aufm Boden quetschen…

  4. Quetschen, liebe Gisela, quetschen, wie die Wurst in die Pelle, wie das Mark aus der Tube, die Katze durch’s Rohr, die Brille vor’s Auge, Die Lauscher an’s Ohr…

  5. Schrankwände sind in jedem Raum zu finden. Eintauchen in die Welt der beschrankten Räume während der Tag in Zeitraffer Licht streut ist eine betäubende Erfahrung. Ich träume.

  6. Ich bitte darum, das Urheberrecht auch bei Pseudonymen zu wahren. Rapunzel bleibt Rapunzel und als solche in Erinnerung. Alles andere finde ich schlichtweg blöd und geklaut.
    Tschüss.

  7. Kasse schieben
    Spinnt der der hat ja gar keine Bankverbindung eingegeben
    Haste schon ne Liste gesehen
    Da müssen jeder was mitbringen
    Oktoberfest
    was Süßes
    weil se Karamellisiert sind

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